Papier: 3.1. Einleitung - Teil 2

Originalversion

1 Teil 2 von -- 3.1. Einleitung --
2
3
4
5 Der digital beförderte Trend zur räumlichen und zeitlichen
6 Dekonzentration von Arbeit hat auch in
7 arbeitsrechtlich-regulatorischer Hinsicht Konsequenzen,
8 welche sich schon seit geraumer Zeit abzeichneten und heute
9 immer deutlicher erkennbar sind. So hat etwa die vom
10 Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Zukunft
11 der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft bereits Ende der
12 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass im Falle einer
13 Fortsetzung dieses Trends „der Betrieb als klassisches
14 Gravitationszentrum der Arbeitswelt erheblich an Bedeutung
15 und prägender Kraft einbüßen [wird]. Wenn sich betriebliche
16 Kooperations- und Kommunikationsprozesse zunehmend auf
17 Datennetze verlagern, technisch vermittelt und zu Teilen
18 asynchron stattfinden, dann droht mit einer solchen
19 tendenziellen ‚Auflösung des Betriebes‘ auch die
20 traditionelle Plattform für arbeitsrechtliche Regulierung,
21 soziale Erfahrung, Konfliktaustragung und -moderation in der
22 Arbeitswelt zu schwinden. Der Trend zur Dekonzentration von
23 Arbeit beeinträchtigt damit die Wirksamkeit derjenigen
24 arbeitsrechtlichen Schutz- und Gestaltungsmechanismen – zum
25 Beispiel der betrieblichen Mitbestimmung –, die sich am
26 Begriff und an der sozialen Realität des Betriebes
27 festmachen.“ [FN: Deutscher Bundestag: Schlussbericht der
28 Enquete-Kommission Zukunft der Medien in Wirtschaft und
29 Gesellschaft – Deutschlands Weg in die
30 Informationsgesellschaft. 1998. BT-Drs. 13/11004 vom 22.
31 Juni 1998, S.55. Abrufbar unter:
32 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/110/1311004.pdf ]
33 Diese seinerzeit noch prognostische Einschätzung hat sich
34 mittlerweile als durchaus realitätsgerecht erwiesen, ohne
35 dass aus ihr bislang praktische Schlussfolgerungen zur
36 Anpassung des Arbeitsrechts an die veränderten Gegebenheiten
37 gezogen worden wären.
38
39 Die Digitalisierung hat jedoch nicht nur Abläufe und
40 Organisationsformen im traditionellen Arbeitsleben stark
41 verändert, sondern auch im Zusammenwirken mit der
42 Intensivierung des Wettbewerbs und der Deregulierung von
43 Arbeitsmarktstrukturen maßgeblich dazu beigetragen, dass
44 sich die Erwerbssphäre insgesamt tiefgreifend verändert. Im
45 Zuge dieser Entwicklung büßt das klassische
46 Normalarbeitsverhältnis als traditionell normsetzender
47 Erwerbstypus an Bedeutung ein. Zwar waren nach den Daten des
48 Mikrozensus 2010 von 30,9 Millionen abhängig Beschäftigten
49 in Deutschland noch immer 23,1 Millionen
50 „normalerwerbstätig“ [FN: Statistisches Bundesamt:
51 Pressemitteilung Nr. 270 vom 19.07.2011. Abrufbar unter:
52 https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemittei
53 lungen/2011/07/PD11_270_132.html ] was noch immer einen
54 Anteil von knapp 75 Prozent ausmachte. Allerdings ist die
55 Zahl der Selbstständigen von 1991 bis 2010 kontinuierlich
56 angestiegen und lag 2010 über 1,2 Millionen höher als 1991 –
57 eine Zunahme von 40,2 Prozent. Der Anteil der
58 Selbstständigen an den Erwerbstätigen lag 2010 bei 10,9
59 Prozent. [FN: Vgl. Institut für Mittelstandsforschung:
60 Erwerbstätige/Selbstständige im Jahr 2010. Abrufbar unter:
61 www.ifm-bonn.org/index.php?utid=107&id=101 Zahlen für 2011
62 werden erst im September/Oktober 2012 vorliegen.] Sicher ist
63 dieser Anstieg nicht monokausal auf die Digitalisierung
64 zurückzuführen. Mit dieser sind jedoch die technischen
65 Grundlagen dafür geschaffen, arbeitsteilige
66 Produktionsprozesse auf hohem Niveau nicht länger nur in
67 hierarchisch zentralisierten, örtlich konzentrierten und auf
68 Dauer angelegten betrieblichen Strukturen, wie sie für das
69 Industriezeitalter typisch waren, zu gestalten, sondern im
70 Wege von Strategien der Modularisierung, Netzwerkbildung und
71 Virtualisierung standortverteilt, telekooperativ, variabel
72 und zeitlich begrenzt zu organisieren – und dies zu
73 vergleichsweise niedrigen Transaktionskosten.
74
75 Neben den strukturellen Veränderungen der Rahmenbedingungen
76 ist die moderne Arbeitswelt auch durch den Wunsch vieler
77 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen geprägt, ihr Arbeitsleben
78 flexibler zu gestalten.
79
80 Im IT-Bereich zeigt sich insbesondere auch folgendes
81 Phänomen: In einigen Berufs- und Arbeitsfeldern haben sich
82 auf Seiten der Berufstätigen ein neues Selbstverständnis und
83 eine veränderte Anspruchshaltung an die Ausgestaltung des
84 Beschäftigungsverhältnisses entwickelt. Die Festanstellung
85 und der langjährige Verbleib bei einem Arbeitgeber sind
86 nicht immer das erklärte Ziel. Zum Beispiel nutzen
87 Softwareentwickler ganz bewusst die Selbstständigkeit und
88 freie berufliche Tätigkeit, um projektbezogen für einen
89 bestimmten Zeitraum für einen Auftraggeber zu arbeiten, ohne
90 die Festanstellung zum Ziel zu haben.
91
92 Die ambivalenten Folgen der zuvor beschriebenen
93 Veränderungen der Erwerbssphäre sind heute überall auf dem
94 Arbeitsmarkt zu beobachten. Bestand die erste Welle der
95 Ich-AGs zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch vorwiegend aus
96 Solo-Selbstständigen [FN: Als Solo-Selbstständige gelten
97 Personen, die selbstständig, aber ohne weitere Beschäftigte
98 tätig sind – inhaltliche Prüfung folgt] die sich als
99 Einzelkämpfer durchschlugen, so arbeiten Freiberufler
100 heutzutage häufig projektbezogen in losen Netzwerken und
101 betreiben ihre Auftragsakquisition algorithmenbasiert auf
102 Online-Plattformen. Nicht zufällig ist der Abschied von
103 traditionellen Erwerbsformen im Bereich der IT-Wirtschaft
104 besonders deutlich zu beobachten. Der Branchenverband BITKOM
105 geht davon aus, dass etwa 18 Prozent der insgesamt 588.000
106 Beschäftigten im Bereich Software und IT-Services
107 selbstständig Tätige sind (während deren Anteil in den
108 anderen Bereichen der Netzwirtschaft eher zu vernachlässigen
109 sei). [FN: Angaben des BITKOM per Mail vom 1. Dezember 2012
110 – Prüfung folgt. Zahlen basierend auf BITKOM, Bundesbank,
111 Destatis, UN Comtrade.] Twago, eine
112 Online-Vermittlungsplattform für Projekte im IT- und
113 Designbereich, hat nach eigenen Angaben mittlerweile 120.000
114 Teilnehmer. Der Anteil der Selbstständigen wachse dabei
115 überproportional, gibt Twago an, dies sei ein weltweit zu
116 beobachtender Trend. [FN: Vgl. Pressemitteilung von twago
117 vom 22. September 2011 auf openPR: IT-Arbeitsmarkt:
118 Selbstständige und Freiberufler auf dem Vormarsch. Abrufbar
119 unter:
120 http://www.openpr.de/news/572894/IT-Arbeitsmarkt-Selbststaen
121 dige-und-Freiberufler-auf-dem-Vormarsch-International-Freela
122 ncers-Day-am-23-09-.html] Auch Plattformen wie jovoto, die
123 Aufträge von Firmen entgegennehmen, um sie von einer
124 Online-Community freiberuflicher Kreativschaffender,
125 vorwiegend aus dem Design-Bereich, bearbeiten zu lassen,
126 erfreuen sich zunehmender Popularität. Zwischen Februar und
127 Mai 2011 ließ sich zudem nach Angaben von Deskmag bei
128 Coworking Spaces weltweit eine stabile Zuwachsrate von 17
129 Prozent verzeichnen. [FN: Vgl. Foertsch, Carsten/deskmag:
130 Coworking wächst weiter. 2011. Abrufbar unter:
131 http://www.deskmag.com/de/820-coworking-spaces-weltweit-stat
132 istik ]
133
134 All dies sind Anzeichen dafür, dass die Arbeitswelt der
135 Zukunft sich immer mehr in Richtung jener „Wikinomics“
136 entwickeln könnte, die Don Tapscott und Anthony Williams
137 beschrieben haben. [FN: Vgl. Tapscott, Don/Williams, Anthony
138 D.: Wikinomics. 2006. ] Sie gehen davon aus, dass
139 kollaborative Zusammenarbeit, wie sie auf vernetzten
140 Plattformen in ungeahntem Ausmaß organisiert werden kann,
141 für die Ökonomien des 21. Jahrhunderts zu den wichtigsten
142 Produktionsfaktoren zählt. Zum Teil geht damit zweifellos
143 ein Gewinn an persönlicher Souveränität und Freiheit der
144 Arbeitenden einher. Die Auswirkungen neuer Formen der
145 Arbeitsorganisation und die Ausgestaltung von
146 Beschäftigungsverhältnissen beziehungsweise selbstständiger
147 Arbeit sind hinsichtlich sozialer Absicherung (inkl.
148 Alterssicherung) und Einkommensstrukturen höchst
149 unterschiedlich. Einzelne profitieren durch unabhängige und
150 freischaffende Tätigkeit als Freelancer oder
151 Selbstständigkeit insbesondere in der IT-Branche. Andere
152 berichten von zunehmender Verunsicherung hinsichtlich
153 sozialer Absicherung und Perspektiven einer Festanstellung.
154
155 Zudem müssen Freiberufler sich neben den tätigkeitsbezogenen
156 Kompetenzen „verwaltende Fähigkeiten“ sowie solche des
157 Selbstmanagements aneignen und dafür entsprechend Zeit
158 einräumen, wie zum Beispiel für die Akquise von Aufträgen,
159 die Abrechnung etc.
160
161 War selbstständiges Unternehmertum in der
162 Industriegesellschaft nur im Zusammenhang mit
163 wirtschaftlicher Autonomie denkbar, so hat sich dies stark
164 gewandelt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hatten
165 im Februar 2011 118.000 Selbstständige Grundsicherung in
166 Anspruch genommen. 85.000 davon verfügten über ein Einkommen
167 von weniger als 400 Euro, 25.000 hatten bis zu 800 Euro
168 verdient. [FN: Welt Online vom 14. Juni 2011: Mehr als
169 100.000 Selbstständige brauchen Hartz IV. Abrufbar unter:
170 http://www.welt.de/wirtschaft/article13428747/Mehr-als-100-0
171 00-Selbststaendige-brauchen-Hartz-IV.html ]
172
173 Auch die Systeme der sozialen Absicherung vermögen mit der
174 Entwicklung der Arbeitswelt nicht Schritt zu halten.
175 Freiberufliche Wissensarbeiter haben beispielsweise, so sie
176 nicht als Kreativschaffende in der Künstlersozialkasse
177 Mitglied werden können, keine Möglichkeit einer günstigen
178 Krankenversicherung. Zudem stellen viele Selbstständige
179 heute fest, dass ihre zukünftigen Rentenansprüche weniger
180 stark steigen als die von Angestellten, auch wenn sie
181 regelmäßig in die Rentenversicherung einzahlen, weil ihr
182 Einkommen weniger stark wächst als das der
183 Durchschnittsbevölkerung. Dies gilt insbesondere dann, wenn
184 sie nicht den vergleichsweise hohen Pflichtbeitrag in die
185 Rentenversicherung einzahlen (können), sondern nur den
186 freiwilligen Mindestbeitrag. Die Möglichkeit, sich als
187 Selbstständiger freiwillig gegen Arbeitslosigkeit zu
188 versichern, besteht gleichfalls nur in sehr eingeschränktem
189 Maße. Zudem sind die Möglichkeiten der kollektiven
190 Interessenvertretung begrenzt, da Selbstständige häufig
191 entweder nicht gewerkschaftlich organisiert sind oder die
192 Gewerkschaften außerhalb tarifrechtlicher Strukturen kaum
193 Einfluss ausüben können.
194
195 Die zentralen Fragen für die Zukunft lauten entsprechend:
196
197  Welche Voraussetzung müssen erfüllt sein, damit
198 selbstständiges Arbeiten jenseits der Festanstellung für die
199 Betroffenen tatsächlich einen Mehrgewinn an Freiheit und
200 persönlicher Autonomie bedeutet?
201
202  Wie müssen die sozialen Sicherungssysteme der Zukunft
203 jenseits gesicherter Arbeitsplätze aussehen?
204
205  Welche Strukturen der Interessenvertretung können auch
206 Selbstständigen eine kollektive Vertretung gegenüber ihren
207 Auftraggebern ermöglichen?

Der Text verglichen mit der Originalversion

1 Teil 2 von -- 3.1. Einleitung --
2
3
4
5 Der digital beförderte Trend zur räumlichen und zeitlichen
6 Dekonzentration von Arbeit hat auch in
7 arbeitsrechtlich-regulatorischer Hinsicht Konsequenzen,
8 welche sich schon seit geraumer Zeit abzeichneten und heute
9 immer deutlicher erkennbar sind. So hat etwa die vom
10 Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Zukunft
11 der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft bereits Ende der
12 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass im Falle einer
13 Fortsetzung dieses Trends „der Betrieb als klassisches
14 Gravitationszentrum der Arbeitswelt erheblich an Bedeutung
15 und prägender Kraft einbüßen [wird]. Wenn sich betriebliche
16 Kooperations- und Kommunikationsprozesse zunehmend auf
17 Datennetze verlagern, technisch vermittelt und zu Teilen
18 asynchron stattfinden, dann droht mit einer solchen
19 tendenziellen ‚Auflösung des Betriebes‘ auch die
20 traditionelle Plattform für arbeitsrechtliche Regulierung,
21 soziale Erfahrung, Konfliktaustragung und -moderation in der
22 Arbeitswelt zu schwinden. Der Trend zur Dekonzentration von
23 Arbeit beeinträchtigt damit die Wirksamkeit derjenigen
24 arbeitsrechtlichen Schutz- und Gestaltungsmechanismen – zum
25 Beispiel der betrieblichen Mitbestimmung –, die sich am
26 Begriff und an der sozialen Realität des Betriebes
27 festmachen.“ [FN: Deutscher Bundestag: Schlussbericht der
28 Enquete-Kommission Zukunft der Medien in Wirtschaft und
29 Gesellschaft – Deutschlands Weg in die
30 Informationsgesellschaft. 1998. BT-Drs. 13/11004 vom 22.
31 Juni 1998, S.55. Abrufbar unter:
32 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/110/1311004.pdf ]
33 Diese seinerzeit noch prognostische Einschätzung hat sich
34 mittlerweile als durchaus realitätsgerecht erwiesen, ohne
35 dass aus ihr bislang praktische Schlussfolgerungen zur
36 Anpassung des Arbeitsrechts an die veränderten Gegebenheiten
37 gezogen worden wären.
38
39 Die Digitalisierung hat jedoch nicht nur Abläufe und
40 Organisationsformen im traditionellen Arbeitsleben stark
41 verändert, sondern auch im Zusammenwirken mit der
42 Intensivierung des Wettbewerbs und der Deregulierung von
43 Arbeitsmarktstrukturen maßgeblich dazu beigetragen, dass
44 sich die Erwerbssphäre insgesamt tiefgreifend verändert. Im
45 Zuge dieser Entwicklung büßt das klassische
46 Normalarbeitsverhältnis als traditionell normsetzender
47 Erwerbstypus an Bedeutung ein. Zwar waren nach den Daten des
48 Mikrozensus 2010 von 30,9 Millionen abhängig Beschäftigten
49 in Deutschland noch immer 23,1 Millionen
50 „normalerwerbstätig“ [FN: Statistisches Bundesamt:
51 Pressemitteilung Nr. 270 vom 19.07.2011. Abrufbar unter:
52 https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemittei
53 lungen/2011/07/PD11_270_132.html ] was noch immer einen
54 Anteil von knapp 75 Prozent ausmachte. Allerdings ist die
55 Zahl der Selbstständigen von 1991 bis 2010 kontinuierlich
56 angestiegen und lag 2010 über 1,2 Millionen höher als 1991 –
57 eine Zunahme von 40,2 Prozent. Der Anteil der
58 Selbstständigen an den Erwerbstätigen lag 2010 bei 10,9
59 Prozent. [FN: Vgl. Institut für Mittelstandsforschung:
60 Erwerbstätige/Selbstständige im Jahr 2010. Abrufbar unter:
61 www.ifm-bonn.org/index.php?utid=107&id=101 Zahlen für 2011
62 werden erst im September/Oktober 2012 vorliegen.] Sicher ist
63 dieser Anstieg nicht monokausal auf die Digitalisierung
64 zurückzuführen. Mit dieser sind jedoch die technischen
65 Grundlagen dafür geschaffen, arbeitsteilige
66 Produktionsprozesse auf hohem Niveau nicht länger nur in
67 hierarchisch zentralisierten, örtlich konzentrierten und auf
68 Dauer angelegten betrieblichen Strukturen, wie sie für das
69 Industriezeitalter typisch waren, zu gestalten, sondern im
70 Wege von Strategien der Modularisierung, Netzwerkbildung und
71 Virtualisierung standortverteilt, telekooperativ, variabel
72 und zeitlich begrenzt zu organisieren – und dies zu
73 vergleichsweise niedrigen Transaktionskosten.
74
75 Neben den strukturellen Veränderungen der Rahmenbedingungen
76 ist die moderne Arbeitswelt auch durch den Wunsch vieler
77 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen geprägt, ihr Arbeitsleben
78 flexibler zu gestalten.
79
80 Im IT-Bereich zeigt sich insbesondere auch folgendes
81 Phänomen: In einigen Berufs- und Arbeitsfeldern haben sich
82 auf Seiten der Berufstätigen ein neues Selbstverständnis und
83 eine veränderte Anspruchshaltung an die Ausgestaltung des
84 Beschäftigungsverhältnisses entwickelt. Die Festanstellung
85 und der langjährige Verbleib bei einem Arbeitgeber sind
86 nicht immer das erklärte Ziel. Zum Beispiel nutzen
87 Softwareentwickler ganz bewusst die Selbstständigkeit und
88 freie berufliche Tätigkeit, um projektbezogen für einen
89 bestimmten Zeitraum für einen Auftraggeber zu arbeiten, ohne
90 die Festanstellung zum Ziel zu haben.
91
92 Die ambivalenten Folgen der zuvor beschriebenen
93 Veränderungen der Erwerbssphäre sind heute überall auf dem
94 Arbeitsmarkt zu beobachten. Bestand die erste Welle der
95 Ich-AGs zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch vorwiegend aus
96 Solo-Selbstständigen [FN: Als Solo-Selbstständige gelten
97 Personen, die selbstständig, aber ohne weitere Beschäftigte
98 tätig sind – inhaltliche Prüfung folgt] die sich als
99 Einzelkämpfer durchschlugen, so arbeiten Freiberufler
100 heutzutage häufig projektbezogen in losen Netzwerken und
101 betreiben ihre Auftragsakquisition algorithmenbasiert auf
102 Online-Plattformen. Nicht zufällig ist der Abschied von
103 traditionellen Erwerbsformen im Bereich der IT-Wirtschaft
104 besonders deutlich zu beobachten. Der Branchenverband BITKOM
105 geht davon aus, dass etwa 18 Prozent der insgesamt 588.000
106 Beschäftigten im Bereich Software und IT-Services
107 selbstständig Tätige sind (während deren Anteil in den
108 anderen Bereichen der Netzwirtschaft eher zu vernachlässigen
109 sei). [FN: Angaben des BITKOM per Mail vom 1. Dezember 2012
110 – Prüfung folgt. Zahlen basierend auf BITKOM, Bundesbank,
111 Destatis, UN Comtrade.] Twago, eine
112 Online-Vermittlungsplattform für Projekte im IT- und
113 Designbereich, hat nach eigenen Angaben mittlerweile 120.000
114 Teilnehmer. Der Anteil der Selbstständigen wachse dabei
115 überproportional, gibt Twago an, dies sei ein weltweit zu
116 beobachtender Trend. [FN: Vgl. Pressemitteilung von twago
117 vom 22. September 2011 auf openPR: IT-Arbeitsmarkt:
118 Selbstständige und Freiberufler auf dem Vormarsch. Abrufbar
119 unter:
120 http://www.openpr.de/news/572894/IT-Arbeitsmarkt-Selbststaen
121 dige-und-Freiberufler-auf-dem-Vormarsch-International-Freela
122 ncers-Day-am-23-09-.html] Auch Plattformen wie jovoto, die
123 Aufträge von Firmen entgegennehmen, um sie von einer
124 Online-Community freiberuflicher Kreativschaffender,
125 vorwiegend aus dem Design-Bereich, bearbeiten zu lassen,
126 erfreuen sich zunehmender Popularität. Zwischen Februar und
127 Mai 2011 ließ sich zudem nach Angaben von Deskmag bei
128 Coworking Spaces weltweit eine stabile Zuwachsrate von 17
129 Prozent verzeichnen. [FN: Vgl. Foertsch, Carsten/deskmag:
130 Coworking wächst weiter. 2011. Abrufbar unter:
131 http://www.deskmag.com/de/820-coworking-spaces-weltweit-stat
132 istik ]
133
134 All dies sind Anzeichen dafür, dass die Arbeitswelt der
135 Zukunft sich immer mehr in Richtung jener „Wikinomics“
136 entwickeln könnte, die Don Tapscott und Anthony Williams
137 beschrieben haben. [FN: Vgl. Tapscott, Don/Williams, Anthony
138 D.: Wikinomics. 2006. ] Sie gehen davon aus, dass
139 kollaborative Zusammenarbeit, wie sie auf vernetzten
140 Plattformen in ungeahntem Ausmaß organisiert werden kann,
141 für die Ökonomien des 21. Jahrhunderts zu den wichtigsten
142 Produktionsfaktoren zählt. Zum Teil geht damit zweifellos
143 ein Gewinn an persönlicher Souveränität und Freiheit der
144 Arbeitenden einher. Die Auswirkungen neuer Formen der
145 Arbeitsorganisation und die Ausgestaltung von
146 Beschäftigungsverhältnissen beziehungsweise selbstständiger
147 Arbeit sind hinsichtlich sozialer Absicherung (inkl.
148 Alterssicherung) und Einkommensstrukturen höchst
149 unterschiedlich. Einzelne profitieren durch unabhängige und
150 freischaffende Tätigkeit als Freelancer oder
151 Selbstständigkeit insbesondere in der IT-Branche. Andere
152 berichten von zunehmender Verunsicherung hinsichtlich
153 sozialer Absicherung und Perspektiven einer Festanstellung.
154
155 Zudem müssen Freiberufler sich neben den tätigkeitsbezogenen
156 Kompetenzen „verwaltende Fähigkeiten“ sowie solche des
157 Selbstmanagements aneignen und dafür entsprechend Zeit
158 einräumen, wie zum Beispiel für die Akquise von Aufträgen,
159 die Abrechnung etc.
160
161 War selbstständiges Unternehmertum in der
162 Industriegesellschaft nur im Zusammenhang mit
163 wirtschaftlicher Autonomie denkbar, so hat sich dies stark
164 gewandelt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hatten
165 im Februar 2011 118.000 Selbstständige Grundsicherung in
166 Anspruch genommen. 85.000 davon verfügten über ein Einkommen
167 von weniger als 400 Euro, 25.000 hatten bis zu 800 Euro
168 verdient. [FN: Welt Online vom 14. Juni 2011: Mehr als
169 100.000 Selbstständige brauchen Hartz IV. Abrufbar unter:
170 http://www.welt.de/wirtschaft/article13428747/Mehr-als-100-0
171 00-Selbststaendige-brauchen-Hartz-IV.html ]
172
173 Auch die Systeme der sozialen Absicherung vermögen mit der
174 Entwicklung der Arbeitswelt nicht Schritt zu halten.
175 Freiberufliche Wissensarbeiter haben beispielsweise, so sie
176 nicht als Kreativschaffende in der Künstlersozialkasse
177 Mitglied werden können, keine Möglichkeit einer günstigen
178 Krankenversicherung. Zudem stellen viele Selbstständige
179 heute fest, dass ihre zukünftigen Rentenansprüche weniger
180 stark steigen als die von Angestellten, auch wenn sie
181 regelmäßig in die Rentenversicherung einzahlen, weil ihr
182 Einkommen weniger stark wächst als das der
183 Durchschnittsbevölkerung. Dies gilt insbesondere dann, wenn
184 sie nicht den vergleichsweise hohen Pflichtbeitrag in die
185 Rentenversicherung einzahlen (können), sondern nur den
186 freiwilligen Mindestbeitrag. Die Möglichkeit, sich als
187 Selbstständiger freiwillig gegen Arbeitslosigkeit zu
188 versichern, besteht gleichfalls nur in sehr eingeschränktem
189 Maße. Zudem sind die Möglichkeiten der kollektiven
190 Interessenvertretung begrenzt, da Selbstständige häufig
191 entweder nicht gewerkschaftlich organisiert sind oder die
192 Gewerkschaften außerhalb tarifrechtlicher Strukturen kaum
193 Einfluss ausüben können.
194
195 Die zentralen Fragen für die Zukunft lauten entsprechend:
196
197  Welche Voraussetzung müssen erfüllt sein, damit
198 selbstständiges Arbeiten jenseits der Festanstellung für die
199 Betroffenen tatsächlich einen Mehrgewinn an Freiheit und
200 persönlicher Autonomie bedeutet?
201
202  Wie müssen die sozialen Sicherungssysteme der Zukunft
203 jenseits gesicherter Arbeitsplätze aussehen?
204
205  Welche Strukturen der Interessenvertretung können auch
206 Selbstständigen eine kollektive Vertretung gegenüber ihren
207 Auftraggebern ermöglichen?

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