Papier: 3.1 Einleitung

Originalversion

1 3.1 Einleitung
2
3 Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann als ein
4 zweiphasiger Prozess verstanden werden, der sich in den
5 zurückliegenden Jahren rasant beschleunigt und zu
6 gravierenden Veränderungen geführt hat. Stand in der ersten
7 Phase die sukzessive Ausstattung von Büros und Fabrikhallen
8 mit programmgesteuerten, überwiegend jedoch noch
9 „stand-alone“ betriebenen digitalen Arbeitsmitteln im
10 Zentrum, so ist die zweite Entwicklungsetappe seit Mitte der
11 1990er Jahre durch deren fortschreitende inner- und
12 überbetriebliche Vernetzung charakterisiert.
13
14 Die Erwerbsarbeit in Deutschland kann heute überwiegend als
15 digital geprägte Arbeit definiert werden. Denn die
16 erwerbsbezogenen Aktivitäten werden unter maßgeblicher
17 Nutzung informations- und kommunikationstechnischer
18 Arbeitsmittel verrichtet. Ebenso bestehen die
19 Arbeitsgegenstände zu wesentlichen Anteilen aus
20 Informationen in digitalisierter Form. Zudem ist die
21 Erwerbsarbeit in Deutschland bereits mehrheitlich auch eine
22 digital vernetzte Arbeit, als sie in relevantem zeitlichen
23 Ausmaß mit und an informations- und
24 kommunikationstechnischen Geräten erbracht wird –
25 klassischerweise an stationären Rechnern, zunehmend aber
26 auch an mobilen Devices wie Notebooks, Tablets oder
27 Smartphones; wobei gerade aus dem Tatbestand der Vernetzung
28 – über das Internet oder über Unternehmensnetze – neue
29 Qualitäten, Potenziale und Herausforderungen resultieren.
30
31 Als Indikatoren für die Bedeutung digital geprägter Arbeit
32 lassen sich zunächst der Vernetzungsgrad von Computern und
33 darauf aufbauend die Intensität der Internetnutzung in
34 deutschen Unternehmen heranziehen. Die entsprechenden
35 statistischen Daten zeugen von einem mittlerweile weit
36 fortgeschrittenen Stand der Digitalisierung im Arbeitsleben.
37 So belief sich der Anteil der Beschäftigten mit regelmäßiger
38 Computernutzung während der Arbeitszeit im Jahr 2010 im
39 Durchschnitt auf 63 Prozent, wobei dieser Wert in einzelnen
40 Wirtschaftszweigen und Unternehmensgrößenklassen noch
41 deutlich höher lag, zum Beispiel
42
43 - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten bei 70
44 Prozent,
45
46 - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ bei
47 96 Prozent und
48
49 - im Wirtschaftszweig „Finanz- und
50 Versicherungsdienstleistungen“ bei 98 Prozent.[FN: Vgl.
51 Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und
52 Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 11f.]
53
54 Durchschnittlich 52 Prozent der Beschäftigten nutzten 2010
55 während ihrer Arbeitszeit das Internet – auch hier waren in
56 den genannten Wirtschaftssegmenten noch höhere Prozentsätze
57 zu verzeichnen, so
58
59 - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten von 54
60 Prozent,
61
62 - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ von
63 93 Prozent und
64
65 - im Wirtschaftszweig „Finanz- und
66 Versicherungsdienstleistungen“ von 86 Prozent. [FN: Vgl.
67 Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und
68 Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 17. ]
69
70 In Summe ist zu konstatieren, dass die digitale
71 Durchdringung der Arbeitswelt in Deutschland bis heute
72 annähernd zwei Drittel aller Beschäftigten erreicht hat und
73 – nimmt man die regelmäßige Internetnutzung zum Maßstab –
74 bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten regelmäßig
75 „Arbeit im Netz“ erbringt. [FN: Die angeführten Daten der
76 amtlichen Statistik dürften „die Dynamik und das erreichte
77 Ausmaß digitaler Vernetzung […] eher noch unterzeichnen. Für
78 eine solche Annahme spricht, dass
79
80 - zusätzliche Teile der Beschäftigten zwar nicht über einen
81 Internetzugang verfügen, aber gleichwohl in betriebs- bzw.
82 unternehmensinterne Netzwerke eingebunden sind […];
83
84 - der klassische PC schon heute nicht mehr die einzige
85 berufliche Zugangsmöglichkeit ins Internet darstellt – mehr
86 und mehr finden zu diesem Zweck auch zunehmend
87 leistungsfähige portable Geräte Anwendung […];
88 als digital vernetzte Arbeit nicht nur solche zu gelten hat,
89 bei der Beschäftigte auf das Netz aktiv mittels eines mehr
90 oder minder intelligenten Endgerätes zugreifen, sondern auch
91 solche, in der Arbeit über Netzwerke gesteuert, kontrolliert
92 und überwacht wird, wobei gestaltende Zugriffe der
93 Betroffenen durch das technische oder organisatorische
94 ‚Setting‛ stark beschränkt bzw. ausgeschlossen sind – dies
95 ist heute beispielsweise in Call Centern und künftig bei
96 einer Reihe von Anwendungen des ‚ubiquitären Computings‛ der
97 Fall.“ Schriftliche Stellungnahme von Michael Schwemmle im
98 Rahmen der öffentlichen Anhörung „Auswirkungen der
99 Digitalisierung auf unsere Gesellschaft“ der
100 Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des
101 Deutschen Bundestages am 05. Juli 2010. A-Drs. 17(24)004-B,
102 S. 6 f. Abrufbar unter:
103 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
104 gen/20100705/A-Drs__17_24_004-B_-_Stellungnahme_Schwemmle.pd
105 f] Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland damit bei
106 beiden Indikatoren über dem EU-Durchschnitt. Dieser lag
107 hinsichtlich der beruflichen Computernutzung bei 51 Prozent;
108 mit einem Anteil von 61 Prozent belegte Deutschland hier den
109 sechsten Rang (Daten jeweils von 2009). „Besonders stark
110 verbreitet sind Computer-Arbeitsplätze in den
111 skandinavischen Ländern. Spitzenreiter ist Finnland mit 71
112 Prozent der Beschäftigten, gefolgt von Schweden mit 68
113 Prozent und Norwegen mit 66 Prozent.“ [FN: BITKOM: 61
114 Prozent aller Berufstätigen arbeiten mit dem Computer.
115 Pressemitteilung vom 9. August 2010. Abrufbar unter:
116 http://www.bitkom.org/64775_64770.aspx ] Das Internet
117 nutzten bei ihrer Arbeit im EU-Durchschnitt 44 Prozent der
118 Beschäftigten; mit einem Anteil von 49 Prozent lag
119 Deutschland in dieser Kategorie auf Platz acht (Daten
120 jeweils von 2009). Auch hier stehen „an der Spitze […] die
121 skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden und
122 Norwegen mit Nutzungsraten von mehr als 60 Prozent.“ [FN:
123 BITKOM: Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mit dem
124 Internet. Pressemitteilung vom 22. März 2011. Abrufbar
125 unter: http://www.bitkom.org/67411_67398.aspx]
126
127 Trotz des bereits erreichten hohen Entwicklungsstands dürfte
128 die Digitalisierungsdynamik in der Arbeitswelt nach wie vor
129 ungebrochen sein, nicht zuletzt weil technische Innovationen
130 – zu nennen wären aktuell etwa die Stichworte „Web 2.0 in
131 Unternehmen“, „Cloud Computing“ und „mobiles Internet“ –
132 aller Voraussicht nach zusätzliche, qualitativ veränderte
133 und tendenziell noch intensivere Formen des digital
134 vernetzten Arbeitens mit sich bringen werden. Damit werden
135 auch die strukturellen Veränderungen, die die digitale
136 Vernetzung auslöst, weiter an prägender Kraft gewinnen.
137 Deren herausragendes Merkmal ist ein grundlegend verändertes
138 Raum-, Zeit- und Organisationsgefüge von Arbeit. Digital
139 vernetzte Arbeit
140
141 - muss nicht mehr an räumlich fixierten Arbeitsplätzen
142 erbracht werden – an Orten, für die sich die Begriffe
143 „Betrieb“ und „Büro“ eingebürgert haben –, sondern kann im
144 Grundsatz überall dort stattfinden, wo ein Netzzugang mit
145 ausreichender Bandbreite vorhanden ist;
146
147 - ist nicht mehr zwingend zu festen und einheitlich
148 standardisierten Zeiten zu leisten, sondern wird auch
149 außerhalb des traditionellen „Nine-to-Five“-Schemas und über
150 Zeitzonen hinweg organisierbar;
151
152 - erfordert im Falle arbeitsteilig-kooperativer Prozesse
153 nicht mehr die zeitgleiche physische Anwesenheit der Akteure
154 in einem Gebäude, sondern lässt die – auch asynchrone –
155 Zusammenarbeit standortverteilter Personen und Teams zu;
156
157 - kann sich mit völlig neuen Konzepten der
158 Arbeitsorganisation verbinden – etwa solchen, bei denen
159 Beschäftigte die notwendigen Arbeitsmittel selbst zur
160 Verfügung stellen.
161
162 Aus diesen Möglichkeiten ergeben sich vielfältige
163 Ansatzpunkte zur Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit
164 in der räumlichen, zeitlichen und organisatorischen
165 Dimension. Die aus Sicht der Enquete-Kommission zentrale
166 Frage ist dabei, wie diese Potenziale digital vernetzter
167 Arbeit entlang des gängigen Chancen-Risiken-Schemas
168 einzustufen sind. Einige Stichworte hierzu, beginnend mit
169 den Chancen:
170
171 Räumlich, zeitlich und organisatorisch disponibles Arbeiten
172 kann erhebliche Autonomiespielräume für die Beschäftigten
173 eröffnen – und dies nicht nur in der „digitalen Bohème […]
174 jenseits der Festanstellung“ [Friebe, Holm/Lobo, Sascha: Wir
175 nennen es Arbeit. 2008, Seite folgt], sondern auch – und
176 quantitativ bedeutsamer – „für mehr Freiheit in der
177 Festanstellung“ [FN: Albers, Markus: Morgen komm ich später
178 rein. 2008, Seite folgt].
179
180  Digitale Technologien ermöglichen den Wunsch vieler
181 Arbeitnehmer, von zu Hause aus zu arbeiten. So arbeiteten
182 2009 bereits 10 Prozent der Beschäftigten in Deutschland
183 regelmäßig im Home-Office. 62 Prozent der Erwerbstätigen
184 wünschen sich, regelmäßig von zu Hause aus zu arbeiten [FN:
185 Vgl. ARIS Umfrageforschung im Auftrag von BITKOM: Die
186 meisten Arbeitnehmer arbeiten gerne zu Hause.
187 Pressemitteilung vom 29. April 2009. Abrufbar unter:
188 http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM-Presseinfo_Home
189 -Office_29_04_2009.pdf ]. Der Einsatz von IT-Produkten trägt
190 dazu bei, persönliche Lebensziele wie die Vereinbarkeit von
191 Familie und Beruf zu verwirklichen.
192
193  Neue Chancen bietet auch der Einsatz von „social
194 Software“, der Varianten kooperativen Arbeitens im Netz
195 ermöglicht: „Der Einsatz von innovativen IKT-Diensten im
196 Unternehmen (zum Beispiel Wikis, Web-2.0-Anwendungen)
197 verändert die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den
198 Mitarbeitern, indem sie den informellen Wissensaustausch
199 oder auch die Kontaktpflege fördern.“ [FN: Münchner Kreis
200 e.V. u. a. (Hrsg.): Zukunft und Zukunftsfähigkeit der
201 deutschen Informations- und Kommunikationstechnologie. 2008,
202 S. 51. ] So ist es beispielsweise möglich geworden, dass
203 mehrere Personen zusammen online an demselben Text arbeiten,
204 indem sie Wikis, Etherpads oder ähnliche Dienste nutzen.
205 Während Wikis asynchron editiert werden, erlauben Etherpads
206 sogar ein synchrones Arbeiten am Text. Damit wird ein raum-
207 und zeitübergreifendes Arbeiten möglich, aber beispielsweise
208 auch die gezielte Einbindung von externem Fachwissen.
209
210 Solche erweiterten Potenziale für zeitliche, räumliche und
211 organisatorische Autonomie und für bessere Kooperation in
212 der Arbeit kommen den Wünschen von vielen Beschäftigten
213 entgegen, wie eine Vielzahl empirischer Befunde belegt. Auf
214 der anderen Seite des Spektrums von Vor- und Nachteilen,
215 Chancen und Herausforderungen wird – partiell auf ein und
216 demselben technischen Potenzial basierend wie die eben
217 erwähnten Aspekte – jedoch auch eine Reihe von Problemzonen
218 deutlich:
219
220 Digitale Vernetzung erleichtert die räumliche Verteilung von
221 Arbeit im globalen Maßstab – eine wichtige Erscheinungsform
222 in diesem Zusammenhang ist „Offshoring“. Dies beeinflusst
223 nicht nur die Angebots-Nachfrage-Relationen auf den
224 Arbeitsmärkten, sondern auch die Kräftekonstellation
225 zwischen Arbeitgebern und Belegschaften in einer für
226 Beschäftigte und Interessenvertretungen in den
227 „Quellländern“ eher nachteiligen Weise, weil sich die
228 Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte letzterer aufgrund des
229 arbeitsrechtlichen Territorialitätsprinzips auf das Gebiet
230 des Nationalstaates beschränken. Im Zuge dieser Entgrenzung
231 verlieren „geografische Entfernungen als ‚natürliche’
232 Konkurrenzgrenze zwischen Produktionsorten […] an
233 Bedeutung.“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird Demokratie im
234 Zeitalter der Globalisierung möglich? 1998, S. 21.] So
235 können erreichte Lohn-, Arbeits- und Sozialstandards
236 zunehmend unter Druck geraten. In einigen Regionen – so in
237 Osteuropa sowie in IT-Zentren Indiens – ist gleichzeitig ein
238 gegenläufiger Trend zu beobachten. Hatten diese Länder
239 zunächst aufgrund der hohen Verfügbarkeit von
240 IT-Spezialisten und infolge der hohen Vergütungsunterschiede
241 Offshoring-Aufträge akquirieren können, sind die Gehälter in
242 diesen Ländern überproportional gestiegen. Dies hat zusammen
243 mit den Kosten für Projektsteuerung und Qualitätssicherung
244 dazu geführt, dass Offshoring zwar zu einem integralen
245 Bestandteil der IT-Branche auch in Deutschland geworden ist,
246 die Verlagerungseffekte jedoch geringer ausfielen als
247 prognostiziert und das Beschäftigungsniveau in der Branche
248 sich weiterhin positiv entwickelt hat. [FN: Vgl. Institut
249 für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Berufe im
250 Spiegel der Statistik. 2011; sowie die Berechnungen des
251 Kompetenzzentrums Technik - Diversity - Chancengleichheit
252 e.V.:
253 http://www.kompetenzz.de/Daten-Fakten/Beschaeftigung-in-der-
254 IT-Branche-2010
255  Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass – wie in
256 einer Ausarbeitung von ver.di festgestellt wird – der
257 Begriff des Offshoring wissenschaftlichen Kriterien kaum
258 genügen kann und sich eine einheitliche Verwendung des
259 Begriffs kaum durchgesetzt hat. So verweisen die Autoren des
260 Beitrags auf den Umstand, “[n]ur unspezifisch wird in den
261 gebräuchlichen Definitionen die Verlagerung von
262 Arbeitsplätzen in den Blick genommen, ohne jedoch die
263 genauen Bedingungen und Merkmale dieser Form der
264 Internationalisierung verbindlich und trennscharf zu
265 bestimmen.” Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Offshoring und die
266 neuen Unsicherheiten einer globalisierten Arbeitswelt, in:
267 ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hrsg.):
268 Hochseilakt – Leben und Arbeiten in der IT-Branche. 2009, S.
269 23 (25).] Die Zahl der Beschäftigten in der IT-Branche stieg
270 zwischen 1996 und 2011 von 600.000 auf 858.000. Heute sind
271 darüber hinaus etwa doppelt so viele IT-Spezialisten
272 außerhalb der IT-Branche beschäftigt wie in der IT-Branche
273 selbst. Das Beschäftigungsvolumen im digitalen Sektor in
274 einem breiten Sinne liegt bei mehr als 2.000.000
275 Beschäftigten.
276
277  Die digitale Vernetzung von Arbeit macht auch die
278 traditionell rigide Trennung zwischen der beruflichen und
279 der privaten Sphäre brüchig. Sowohl räumlich als auch
280 zeitlich werden die Grenzlinien zwischen Arbeit und Freizeit
281 durchlässiger – ein gleichfalls als ambivalent
282 einzustufendes Phänomen. Zum gravierenden Problem werden
283 solche Entgrenzungen jedoch spätestens dann, wenn sie zu
284 einem „Arbeiten ohne Ende“ oder zur ständigen Verfügbarkeit
285 bei permanenter Erreichbarkeit führen. Solche
286 Arbeitsbedingungen können in hohem Maße belastend wirken.
287 Dies gilt auch für die Beschleunigungseffekte der digitalen
288 Vernetzung – etwa die Erwartung kurzer Reaktionszeiten auf
289 E-Mails oder andere Formen elektronischer Kommunikation.
290 Derzeit lässt sich jedoch auch eine Gegenbewegung zu der
291 beschriebenen Problematik erkennen. Auch das Management
292 großer Unternehmen wendet sich gegen die vereinzelt zu
293 beobachtende „always-on-Mentalität“. [FN: Siehe hierzu auch
294 Kapitel 3.3.4 Gesundes Arbeiten.]
295
296  Die durch digitale Vernetzung immens erweiterten
297 Möglichkeiten, Wertschöpfung standortverteilt, hoch
298 modularisiert und in flexiblen, zum Teil „nur“ virtuellen
299 Strukturen zu organisieren, erhöht für Unternehmen den
300 Anreiz, Arbeitsleistung nur noch fallweise zu kaufen, ohne
301 Arbeitskräfte dauerhaft – u. a. mit den sozialen
302 Sicherungsmechanismen des klassischen
303 Normalarbeitsverhältnisses – an sich binden zu müssen. Da
304 von solchen Optionen zunehmend Gebrauch gemacht wird, steigt
305 die Zahl von stets nur kurzfristig und instabil, auf Dienst-
306 oder Werkvertragsbasis Beschäftigten in den größer werdenden
307 Randzonen der etablierten Unternehmen. Digitale Vernetzung
308 kann somit Potenziale von Entsicherung und Prekarisierung
309 verstärken. Dies wird insbesondere dort deutlich, wenn
310 Unternehmen mittels „Crowdsourcing“ Tätigkeiten, welche bis
311 dato von eigenen Beschäftigten erbracht wurden, auf
312 Plattformen im Internet weltweit ausschreiben und an
313 wechselnde externe Auftragnehmer vergeben. [FN:
314 Entsprechende Vorhaben sind etwa von IBM Deutschland bekannt
315 geworden: „Im Rahmen seines ‚Liquid‘-Programms will der
316 US-Konzern in den nächsten Jahren Tausende Arbeitsplätze in
317 Deutschland abbauen und Dienstleistungen verstärkt von
318 freien Mitarbeitern anbieten lassen. […] IBM will […]
319 Projekte auf Internetplattformen ausschreiben, wo sich dann
320 auch die ehemals fest angestellten IT-Entwickler um die Jobs
321 bewerben können. Nicht die Arbeit verschwindet, wohl aber
322 die bisherige Form des festen Arbeitsplatzes.“ Koenen, Jens:
323 IBM Deutschland plant Jobabbau im großen Stil. Handelsblatt
324 vom 01. Februar 2012, S. 6f. ] Im Zuge einer solchen
325 Flexibilisierung der Arbeitsorganisation erhöht sich der
326 Druck auf bisherige Normalarbeitsverhältnisse, die
327 tendenziell reduziert und durch freie Auftragsverhältnisse
328 ersetzt werden.
329
330 Es entsteht Potenzial, ganze Unternehmensbereiche zu
331 schließen, um die zuvor dort Beschäftigten hernach als
332 selbstständige Freiberufler im Rahmen von Projektarbeit zu
333 veränderten Lohnleistungsbedingungen weiter zu beschäftigen.
334 Beispielsweise müssen diese Beschäftigten sich selbst um
335 ihre Weiterbildung kümmern und auch die soziale Absicherung
336 finanzieren.
337
338 Mögen diese durch die digitale Vernetzung möglich gewordenen
339 Gestaltungsvarianten einerseits mit betriebswirtschaftlichen
340 Vorteilen verbunden sein, so führen sie auf der anderen
341 Seite zu einer deutlichen Absenkung des Schutzniveaus
342 abhängiger Erwerbstätigkeit und zu einer Beeinträchtigung
343 von bisherigen, an feste Beschäftigungsverhältnisse
344 gekoppelten Finanzierungsmechanismen sozialer Sicherung.
345
346  Crowdsourcing bezeichnet laut Wikipedia [FN: Stand:
347 21.03.2012.] „im Gegensatz zum Outsourcing
348 <http://de.wikipedia.org/wiki/Outsourcing> nicht die
349 Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen an
350 Drittunternehmen, sondern die Auslagerung auf die
351 Intelligenz und die Arbeitskraft einer Masse von
352 Freizeitarbeitern im Internet. Eine Schar von Experten und
353 Dienstleistern generiert Inhalte, löst diverse Aufgaben und
354 Probleme oder ist an Forschungs- und Entwicklungsprojekten
355 beteiligt (vgl. Schwarmintelligenz
356 <http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarmintelligenz>).
357 Crowdsourcing ist damit ein Prinzip der Arbeitsteilung, die
358 mit ihren positiven Spezialisierungseffekten zu den
359 Grundprinzipien des Wirtschaftens zählt.“
360
361 Crowdsourcing wird von Aktiven im Netz getrieben und erfährt
362 breite gesellschaftliche Akzeptanz. Als „Auslagerung von
363 Unternehmensaufgaben auf die Arbeitskraft einer Masse von
364 Freizeitarbeitern“ hat es allerdings gleichzeitig zur
365 Vernichtung langjährig etablierter Geschäftsmodelle und
366 fester Arbeitsverhältnisse in Unternehmen geführt.
367 Prominenteste Beispiele für auf Crowdsourcing basierende
368 Angebote, die in direkter Konkurrenz zu gewerblichen
369 Angeboten stehen, sind Wikipedia und OpenStreetMaps.
370 Parallel zum Aufstieg von Wikipedia wurden Neuauflagen
371 etablierter Enzyklopädien wie Brockhaus (2005/2006) und
372 Encylopaedia Britannica (2010) eingestellt sowie die
373 entsprechenden Belegschaften reduziert. Inzwischen beginnen
374 Unternehmen dem Beispiel der Netzgemeinde zu folgen und
375 setzen sich aktiv mit der Fragestellung auseinander, wie
376 sich Crowdsourcing-Ansätze kommerziell verwerten lassen.
377
378 --->
379 Siehe 3.1 Einleitung, Teil 2

Der Text verglichen mit der Originalversion

1 3.1 Einleitung
2
3 Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann als ein
4 zweiphasiger Prozess verstanden werden, der sich in den
5 zurückliegenden Jahren rasant beschleunigt und zu
6 gravierenden Veränderungen geführt hat. Stand in der ersten
7 Phase die sukzessive Ausstattung von Büros und Fabrikhallen
8 mit programmgesteuerten, überwiegend jedoch noch
9 „stand-alone“ betriebenen digitalen Arbeitsmitteln im
10 Zentrum, so ist die zweite Entwicklungsetappe seit Mitte der
11 1990er Jahre durch deren fortschreitende inner- und
12 überbetriebliche Vernetzung charakterisiert.
13
14 Die Erwerbsarbeit in Deutschland kann heute überwiegend als
15 digital geprägte Arbeit definiert werden. Denn die
16 erwerbsbezogenen Aktivitäten werden unter maßgeblicher
17 Nutzung informations- und kommunikationstechnischer
18 Arbeitsmittel verrichtet. Ebenso bestehen die
19 Arbeitsgegenstände zu wesentlichen Anteilen aus
20 Informationen in digitalisierter Form. Zudem ist die
21 Erwerbsarbeit in Deutschland bereits mehrheitlich auch eine
22 digital vernetzte Arbeit, als sie in relevantem zeitlichen
23 Ausmaß mit und an informations- und
24 kommunikationstechnischen Geräten erbracht wird –
25 klassischerweise an stationären Rechnern, zunehmend aber
26 auch an mobilen Devices wie Notebooks, Tablets oder
27 Smartphones; wobei gerade aus dem Tatbestand der Vernetzung
28 – über das Internet oder über Unternehmensnetze – neue
29 Qualitäten, Potenziale und Herausforderungen resultieren.
30
31 Als Indikatoren für die Bedeutung digital geprägter Arbeit
32 lassen sich zunächst der Vernetzungsgrad von Computern und
33 darauf aufbauend die Intensität der Internetnutzung in
34 deutschen Unternehmen heranziehen. Die entsprechenden
35 statistischen Daten zeugen von einem mittlerweile weit
36 fortgeschrittenen Stand der Digitalisierung im Arbeitsleben.
37 So belief sich der Anteil der Beschäftigten mit regelmäßiger
38 Computernutzung während der Arbeitszeit im Jahr 2010 im
39 Durchschnitt auf 63 Prozent, wobei dieser Wert in einzelnen
40 Wirtschaftszweigen und Unternehmensgrößenklassen noch
41 deutlich höher lag, zum Beispiel
42
43 - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten bei 70
44 Prozent,
45
46 - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ bei
47 96 Prozent und
48
49 - im Wirtschaftszweig „Finanz- und
50 Versicherungsdienstleistungen“ bei 98 Prozent.[FN: Vgl.
51 Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und
52 Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 11f.]
53
54 Durchschnittlich 52 Prozent der Beschäftigten nutzten 2010
55 während ihrer Arbeitszeit das Internet – auch hier waren in
56 den genannten Wirtschaftssegmenten noch höhere Prozentsätze
57 zu verzeichnen, so
58
59 - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten von 54
60 Prozent,
61
62 - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ von
63 93 Prozent und
64
65 - im Wirtschaftszweig „Finanz- und
66 Versicherungsdienstleistungen“ von 86 Prozent. [FN: Vgl.
67 Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und
68 Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 17. ]
69
70 In Summe ist zu konstatieren, dass die digitale
71 Durchdringung der Arbeitswelt in Deutschland bis heute
72 annähernd zwei Drittel aller Beschäftigten erreicht hat und
73 – nimmt man die regelmäßige Internetnutzung zum Maßstab –
74 bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten regelmäßig
75 „Arbeit im Netz“ erbringt. [FN: Die angeführten Daten der
76 amtlichen Statistik dürften „die Dynamik und das erreichte
77 Ausmaß digitaler Vernetzung […] eher noch unterzeichnen. Für
78 eine solche Annahme spricht, dass
79
80 - zusätzliche Teile der Beschäftigten zwar nicht über einen
81 Internetzugang verfügen, aber gleichwohl in betriebs- bzw.
82 unternehmensinterne Netzwerke eingebunden sind […];
83
84 - der klassische PC schon heute nicht mehr die einzige
85 berufliche Zugangsmöglichkeit ins Internet darstellt – mehr
86 und mehr finden zu diesem Zweck auch zunehmend
87 leistungsfähige portable Geräte Anwendung […];
88 als digital vernetzte Arbeit nicht nur solche zu gelten hat,
89 bei der Beschäftigte auf das Netz aktiv mittels eines mehr
90 oder minder intelligenten Endgerätes zugreifen, sondern auch
91 solche, in der Arbeit über Netzwerke gesteuert, kontrolliert
92 und überwacht wird, wobei gestaltende Zugriffe der
93 Betroffenen durch das technische oder organisatorische
94 ‚Setting‛ stark beschränkt bzw. ausgeschlossen sind – dies
95 ist heute beispielsweise in Call Centern und künftig bei
96 einer Reihe von Anwendungen des ‚ubiquitären Computings‛ der
97 Fall.“ Schriftliche Stellungnahme von Michael Schwemmle im
98 Rahmen der öffentlichen Anhörung „Auswirkungen der
99 Digitalisierung auf unsere Gesellschaft“ der
100 Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des
101 Deutschen Bundestages am 05. Juli 2010. A-Drs. 17(24)004-B,
102 S. 6 f. Abrufbar unter:
103 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
104 gen/20100705/A-Drs__17_24_004-B_-_Stellungnahme_Schwemmle.pd
105 f] Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland damit bei
106 beiden Indikatoren über dem EU-Durchschnitt. Dieser lag
107 hinsichtlich der beruflichen Computernutzung bei 51 Prozent;
108 mit einem Anteil von 61 Prozent belegte Deutschland hier den
109 sechsten Rang (Daten jeweils von 2009). „Besonders stark
110 verbreitet sind Computer-Arbeitsplätze in den
111 skandinavischen Ländern. Spitzenreiter ist Finnland mit 71
112 Prozent der Beschäftigten, gefolgt von Schweden mit 68
113 Prozent und Norwegen mit 66 Prozent.“ [FN: BITKOM: 61
114 Prozent aller Berufstätigen arbeiten mit dem Computer.
115 Pressemitteilung vom 9. August 2010. Abrufbar unter:
116 http://www.bitkom.org/64775_64770.aspx ] Das Internet
117 nutzten bei ihrer Arbeit im EU-Durchschnitt 44 Prozent der
118 Beschäftigten; mit einem Anteil von 49 Prozent lag
119 Deutschland in dieser Kategorie auf Platz acht (Daten
120 jeweils von 2009). Auch hier stehen „an der Spitze […] die
121 skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden und
122 Norwegen mit Nutzungsraten von mehr als 60 Prozent.“ [FN:
123 BITKOM: Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mit dem
124 Internet. Pressemitteilung vom 22. März 2011. Abrufbar
125 unter: http://www.bitkom.org/67411_67398.aspx]
126
127 Trotz des bereits erreichten hohen Entwicklungsstands dürfte
128 die Digitalisierungsdynamik in der Arbeitswelt nach wie vor
129 ungebrochen sein, nicht zuletzt weil technische Innovationen
130 – zu nennen wären aktuell etwa die Stichworte „Web 2.0 in
131 Unternehmen“, „Cloud Computing“ und „mobiles Internet“ –
132 aller Voraussicht nach zusätzliche, qualitativ veränderte
133 und tendenziell noch intensivere Formen des digital
134 vernetzten Arbeitens mit sich bringen werden. Damit werden
135 auch die strukturellen Veränderungen, die die digitale
136 Vernetzung auslöst, weiter an prägender Kraft gewinnen.
137 Deren herausragendes Merkmal ist ein grundlegend verändertes
138 Raum-, Zeit- und Organisationsgefüge von Arbeit. Digital
139 vernetzte Arbeit
140
141 - muss nicht mehr an räumlich fixierten Arbeitsplätzen
142 erbracht werden – an Orten, für die sich die Begriffe
143 „Betrieb“ und „Büro“ eingebürgert haben –, sondern kann im
144 Grundsatz überall dort stattfinden, wo ein Netzzugang mit
145 ausreichender Bandbreite vorhanden ist;
146
147 - ist nicht mehr zwingend zu festen und einheitlich
148 standardisierten Zeiten zu leisten, sondern wird auch
149 außerhalb des traditionellen „Nine-to-Five“-Schemas und über
150 Zeitzonen hinweg organisierbar;
151
152 - erfordert im Falle arbeitsteilig-kooperativer Prozesse
153 nicht mehr die zeitgleiche physische Anwesenheit der Akteure
154 in einem Gebäude, sondern lässt die – auch asynchrone –
155 Zusammenarbeit standortverteilter Personen und Teams zu;
156
157 - kann sich mit völlig neuen Konzepten der
158 Arbeitsorganisation verbinden – etwa solchen, bei denen
159 Beschäftigte die notwendigen Arbeitsmittel selbst zur
160 Verfügung stellen.
161
162 Aus diesen Möglichkeiten ergeben sich vielfältige
163 Ansatzpunkte zur Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit
164 in der räumlichen, zeitlichen und organisatorischen
165 Dimension. Die aus Sicht der Enquete-Kommission zentrale
166 Frage ist dabei, wie diese Potenziale digital vernetzter
167 Arbeit entlang des gängigen Chancen-Risiken-Schemas
168 einzustufen sind. Einige Stichworte hierzu, beginnend mit
169 den Chancen:
170
171 Räumlich, zeitlich und organisatorisch disponibles Arbeiten
172 kann erhebliche Autonomiespielräume für die Beschäftigten
173 eröffnen – und dies nicht nur in der „digitalen Bohème […]
174 jenseits der Festanstellung“ [Friebe, Holm/Lobo, Sascha: Wir
175 nennen es Arbeit. 2008, Seite folgt], sondern auch – und
176 quantitativ bedeutsamer – „für mehr Freiheit in der
177 Festanstellung“ [FN: Albers, Markus: Morgen komm ich später
178 rein. 2008, Seite folgt].
179
180  Digitale Technologien ermöglichen den Wunsch vieler
181 Arbeitnehmer, von zu Hause aus zu arbeiten. So arbeiteten
182 2009 bereits 10 Prozent der Beschäftigten in Deutschland
183 regelmäßig im Home-Office. 62 Prozent der Erwerbstätigen
184 wünschen sich, regelmäßig von zu Hause aus zu arbeiten [FN:
185 Vgl. ARIS Umfrageforschung im Auftrag von BITKOM: Die
186 meisten Arbeitnehmer arbeiten gerne zu Hause.
187 Pressemitteilung vom 29. April 2009. Abrufbar unter:
188 http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM-Presseinfo_Home
189 -Office_29_04_2009.pdf ]. Der Einsatz von IT-Produkten trägt
190 dazu bei, persönliche Lebensziele wie die Vereinbarkeit von
191 Familie und Beruf zu verwirklichen.
192
193  Neue Chancen bietet auch der Einsatz von „social
194 Software“, der Varianten kooperativen Arbeitens im Netz
195 ermöglicht: „Der Einsatz von innovativen IKT-Diensten im
196 Unternehmen (zum Beispiel Wikis, Web-2.0-Anwendungen)
197 verändert die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den
198 Mitarbeitern, indem sie den informellen Wissensaustausch
199 oder auch die Kontaktpflege fördern.“ [FN: Münchner Kreis
200 e.V. u. a. (Hrsg.): Zukunft und Zukunftsfähigkeit der
201 deutschen Informations- und Kommunikationstechnologie. 2008,
202 S. 51. ] So ist es beispielsweise möglich geworden, dass
203 mehrere Personen zusammen online an demselben Text arbeiten,
204 indem sie Wikis, Etherpads oder ähnliche Dienste nutzen.
205 Während Wikis asynchron editiert werden, erlauben Etherpads
206 sogar ein synchrones Arbeiten am Text. Damit wird ein raum-
207 und zeitübergreifendes Arbeiten möglich, aber beispielsweise
208 auch die gezielte Einbindung von externem Fachwissen.
209
210 Solche erweiterten Potenziale für zeitliche, räumliche und
211 organisatorische Autonomie und für bessere Kooperation in
212 der Arbeit kommen den Wünschen von vielen Beschäftigten
213 entgegen, wie eine Vielzahl empirischer Befunde belegt. Auf
214 der anderen Seite des Spektrums von Vor- und Nachteilen,
215 Chancen und Herausforderungen wird – partiell auf ein und
216 demselben technischen Potenzial basierend wie die eben
217 erwähnten Aspekte – jedoch auch eine Reihe von Problemzonen
218 deutlich:
219
220 Digitale Vernetzung erleichtert die räumliche Verteilung von
221 Arbeit im globalen Maßstab – eine wichtige Erscheinungsform
222 in diesem Zusammenhang ist „Offshoring“. Dies beeinflusst
223 nicht nur die Angebots-Nachfrage-Relationen auf den
224 Arbeitsmärkten, sondern auch die Kräftekonstellation
225 zwischen Arbeitgebern und Belegschaften in einer für
226 Beschäftigte und Interessenvertretungen in den
227 „Quellländern“ eher nachteiligen Weise, weil sich die
228 Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte letzterer aufgrund des
229 arbeitsrechtlichen Territorialitätsprinzips auf das Gebiet
230 des Nationalstaates beschränken. Im Zuge dieser Entgrenzung
231 verlieren „geografische Entfernungen als ‚natürliche’
232 Konkurrenzgrenze zwischen Produktionsorten […] an
233 Bedeutung.“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird Demokratie im
234 Zeitalter der Globalisierung möglich? 1998, S. 21.] So
235 können erreichte Lohn-, Arbeits- und Sozialstandards
236 zunehmend unter Druck geraten. In einigen Regionen – so in
237 Osteuropa sowie in IT-Zentren Indiens – ist gleichzeitig ein
238 gegenläufiger Trend zu beobachten. Hatten diese Länder
239 zunächst aufgrund der hohen Verfügbarkeit von
240 IT-Spezialisten und infolge der hohen Vergütungsunterschiede
241 Offshoring-Aufträge akquirieren können, sind die Gehälter in
242 diesen Ländern überproportional gestiegen. Dies hat zusammen
243 mit den Kosten für Projektsteuerung und Qualitätssicherung
244 dazu geführt, dass Offshoring zwar zu einem integralen
245 Bestandteil der IT-Branche auch in Deutschland geworden ist,
246 die Verlagerungseffekte jedoch geringer ausfielen als
247 prognostiziert und das Beschäftigungsniveau in der Branche
248 sich weiterhin positiv entwickelt hat. [FN: Vgl. Institut
249 für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Berufe im
250 Spiegel der Statistik. 2011; sowie die Berechnungen des
251 Kompetenzzentrums Technik - Diversity - Chancengleichheit
252 e.V.:
253 http://www.kompetenzz.de/Daten-Fakten/Beschaeftigung-in-der-
254 IT-Branche-2010
255  Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass – wie in
256 einer Ausarbeitung von ver.di festgestellt wird – der
257 Begriff des Offshoring wissenschaftlichen Kriterien kaum
258 genügen kann und sich eine einheitliche Verwendung des
259 Begriffs kaum durchgesetzt hat. So verweisen die Autoren des
260 Beitrags auf den Umstand, “[n]ur unspezifisch wird in den
261 gebräuchlichen Definitionen die Verlagerung von
262 Arbeitsplätzen in den Blick genommen, ohne jedoch die
263 genauen Bedingungen und Merkmale dieser Form der
264 Internationalisierung verbindlich und trennscharf zu
265 bestimmen.” Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Offshoring und die
266 neuen Unsicherheiten einer globalisierten Arbeitswelt, in:
267 ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hrsg.):
268 Hochseilakt – Leben und Arbeiten in der IT-Branche. 2009, S.
269 23 (25).] Die Zahl der Beschäftigten in der IT-Branche stieg
270 zwischen 1996 und 2011 von 600.000 auf 858.000. Heute sind
271 darüber hinaus etwa doppelt so viele IT-Spezialisten
272 außerhalb der IT-Branche beschäftigt wie in der IT-Branche
273 selbst. Das Beschäftigungsvolumen im digitalen Sektor in
274 einem breiten Sinne liegt bei mehr als 2.000.000
275 Beschäftigten.
276
277  Die digitale Vernetzung von Arbeit macht auch die
278 traditionell rigide Trennung zwischen der beruflichen und
279 der privaten Sphäre brüchig. Sowohl räumlich als auch
280 zeitlich werden die Grenzlinien zwischen Arbeit und Freizeit
281 durchlässiger – ein gleichfalls als ambivalent
282 einzustufendes Phänomen. Zum gravierenden Problem werden
283 solche Entgrenzungen jedoch spätestens dann, wenn sie zu
284 einem „Arbeiten ohne Ende“ oder zur ständigen Verfügbarkeit
285 bei permanenter Erreichbarkeit führen. Solche
286 Arbeitsbedingungen können in hohem Maße belastend wirken.
287 Dies gilt auch für die Beschleunigungseffekte der digitalen
288 Vernetzung – etwa die Erwartung kurzer Reaktionszeiten auf
289 E-Mails oder andere Formen elektronischer Kommunikation.
290 Derzeit lässt sich jedoch auch eine Gegenbewegung zu der
291 beschriebenen Problematik erkennen. Auch das Management
292 großer Unternehmen wendet sich gegen die vereinzelt zu
293 beobachtende „always-on-Mentalität“. [FN: Siehe hierzu auch
294 Kapitel 3.3.4 Gesundes Arbeiten.]
295
296  Die durch digitale Vernetzung immens erweiterten
297 Möglichkeiten, Wertschöpfung standortverteilt, hoch
298 modularisiert und in flexiblen, zum Teil „nur“ virtuellen
299 Strukturen zu organisieren, erhöht für Unternehmen den
300 Anreiz, Arbeitsleistung nur noch fallweise zu kaufen, ohne
301 Arbeitskräfte dauerhaft – u. a. mit den sozialen
302 Sicherungsmechanismen des klassischen
303 Normalarbeitsverhältnisses – an sich binden zu müssen. Da
304 von solchen Optionen zunehmend Gebrauch gemacht wird, steigt
305 die Zahl von stets nur kurzfristig und instabil, auf Dienst-
306 oder Werkvertragsbasis Beschäftigten in den größer werdenden
307 Randzonen der etablierten Unternehmen. Digitale Vernetzung
308 kann somit Potenziale von Entsicherung und Prekarisierung
309 verstärken. Dies wird insbesondere dort deutlich, wenn
310 Unternehmen mittels „Crowdsourcing“ Tätigkeiten, welche bis
311 dato von eigenen Beschäftigten erbracht wurden, auf
312 Plattformen im Internet weltweit ausschreiben und an
313 wechselnde externe Auftragnehmer vergeben. [FN:
314 Entsprechende Vorhaben sind etwa von IBM Deutschland bekannt
315 geworden: „Im Rahmen seines ‚Liquid‘-Programms will der
316 US-Konzern in den nächsten Jahren Tausende Arbeitsplätze in
317 Deutschland abbauen und Dienstleistungen verstärkt von
318 freien Mitarbeitern anbieten lassen. […] IBM will […]
319 Projekte auf Internetplattformen ausschreiben, wo sich dann
320 auch die ehemals fest angestellten IT-Entwickler um die Jobs
321 bewerben können. Nicht die Arbeit verschwindet, wohl aber
322 die bisherige Form des festen Arbeitsplatzes.“ Koenen, Jens:
323 IBM Deutschland plant Jobabbau im großen Stil. Handelsblatt
324 vom 01. Februar 2012, S. 6f. ] Im Zuge einer solchen
325 Flexibilisierung der Arbeitsorganisation erhöht sich der
326 Druck auf bisherige Normalarbeitsverhältnisse, die
327 tendenziell reduziert und durch freie Auftragsverhältnisse
328 ersetzt werden.
329
330 Es entsteht Potenzial, ganze Unternehmensbereiche zu
331 schließen, um die zuvor dort Beschäftigten hernach als
332 selbstständige Freiberufler im Rahmen von Projektarbeit zu
333 veränderten Lohnleistungsbedingungen weiter zu beschäftigen.
334 Beispielsweise müssen diese Beschäftigten sich selbst um
335 ihre Weiterbildung kümmern und auch die soziale Absicherung
336 finanzieren.
337
338 Mögen diese durch die digitale Vernetzung möglich gewordenen
339 Gestaltungsvarianten einerseits mit betriebswirtschaftlichen
340 Vorteilen verbunden sein, so führen sie auf der anderen
341 Seite zu einer deutlichen Absenkung des Schutzniveaus
342 abhängiger Erwerbstätigkeit und zu einer Beeinträchtigung
343 von bisherigen, an feste Beschäftigungsverhältnisse
344 gekoppelten Finanzierungsmechanismen sozialer Sicherung.
345
346  Crowdsourcing bezeichnet laut Wikipedia [FN: Stand:
347 21.03.2012.] „im Gegensatz zum Outsourcing
348 <http://de.wikipedia.org/wiki/Outsourcing> nicht die
349 Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen an
350 Drittunternehmen, sondern die Auslagerung auf die
351 Intelligenz und die Arbeitskraft einer Masse von
352 Freizeitarbeitern im Internet. Eine Schar von Experten und
353 Dienstleistern generiert Inhalte, löst diverse Aufgaben und
354 Probleme oder ist an Forschungs- und Entwicklungsprojekten
355 beteiligt (vgl. Schwarmintelligenz
356 <http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarmintelligenz>).
357 Crowdsourcing ist damit ein Prinzip der Arbeitsteilung, die
358 mit ihren positiven Spezialisierungseffekten zu den
359 Grundprinzipien des Wirtschaftens zählt.“
360
361 Crowdsourcing wird von Aktiven im Netz getrieben und erfährt
362 breite gesellschaftliche Akzeptanz. Als „Auslagerung von
363 Unternehmensaufgaben auf die Arbeitskraft einer Masse von
364 Freizeitarbeitern“ hat es allerdings gleichzeitig zur
365 Vernichtung langjährig etablierter Geschäftsmodelle und
366 fester Arbeitsverhältnisse in Unternehmen geführt.
367 Prominenteste Beispiele für auf Crowdsourcing basierende
368 Angebote, die in direkter Konkurrenz zu gewerblichen
369 Angeboten stehen, sind Wikipedia und OpenStreetMaps.
370 Parallel zum Aufstieg von Wikipedia wurden Neuauflagen
371 etablierter Enzyklopädien wie Brockhaus (2005/2006) und
372 Encylopaedia Britannica (2010) eingestellt sowie die
373 entsprechenden Belegschaften reduziert. Inzwischen beginnen
374 Unternehmen dem Beispiel der Netzgemeinde zu folgen und
375 setzen sich aktiv mit der Fragestellung auseinander, wie
376 sich Crowdsourcing-Ansätze kommerziell verwerten lassen.
377
378 --->
379 Siehe 3.1 Einleitung, Teil 2

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