Papier: 3.1 Einleitung
Originalversion
1 | 3.1 Einleitung |
2 | |
3 | Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann als ein |
4 | zweiphasiger Prozess verstanden werden, der sich in den |
5 | zurückliegenden Jahren rasant beschleunigt und zu |
6 | gravierenden Veränderungen geführt hat. Stand in der ersten |
7 | Phase die sukzessive Ausstattung von Büros und Fabrikhallen |
8 | mit programmgesteuerten, überwiegend jedoch noch |
9 | „stand-alone“ betriebenen digitalen Arbeitsmitteln im |
10 | Zentrum, so ist die zweite Entwicklungsetappe seit Mitte der |
11 | 1990er Jahre durch deren fortschreitende inner- und |
12 | überbetriebliche Vernetzung charakterisiert. |
13 | |
14 | Die Erwerbsarbeit in Deutschland kann heute überwiegend als |
15 | digital geprägte Arbeit definiert werden. Denn die |
16 | erwerbsbezogenen Aktivitäten werden unter maßgeblicher |
17 | Nutzung informations- und kommunikationstechnischer |
18 | Arbeitsmittel verrichtet. Ebenso bestehen die |
19 | Arbeitsgegenstände zu wesentlichen Anteilen aus |
20 | Informationen in digitalisierter Form. Zudem ist die |
21 | Erwerbsarbeit in Deutschland bereits mehrheitlich auch eine |
22 | digital vernetzte Arbeit, als sie in relevantem zeitlichen |
23 | Ausmaß mit und an informations- und |
24 | kommunikationstechnischen Geräten erbracht wird – |
25 | klassischerweise an stationären Rechnern, zunehmend aber |
26 | auch an mobilen Devices wie Notebooks, Tablets oder |
27 | Smartphones; wobei gerade aus dem Tatbestand der Vernetzung |
28 | – über das Internet oder über Unternehmensnetze – neue |
29 | Qualitäten, Potenziale und Herausforderungen resultieren. |
30 | |
31 | Als Indikatoren für die Bedeutung digital geprägter Arbeit |
32 | lassen sich zunächst der Vernetzungsgrad von Computern und |
33 | darauf aufbauend die Intensität der Internetnutzung in |
34 | deutschen Unternehmen heranziehen. Die entsprechenden |
35 | statistischen Daten zeugen von einem mittlerweile weit |
36 | fortgeschrittenen Stand der Digitalisierung im Arbeitsleben. |
37 | So belief sich der Anteil der Beschäftigten mit regelmäßiger |
38 | Computernutzung während der Arbeitszeit im Jahr 2010 im |
39 | Durchschnitt auf 63 Prozent, wobei dieser Wert in einzelnen |
40 | Wirtschaftszweigen und Unternehmensgrößenklassen noch |
41 | deutlich höher lag, zum Beispiel |
42 | |
43 | - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten bei 70 |
44 | Prozent, |
45 | |
46 | - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ bei |
47 | 96 Prozent und |
48 | |
49 | - im Wirtschaftszweig „Finanz- und |
50 | Versicherungsdienstleistungen“ bei 98 Prozent.[FN: Vgl. |
51 | Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und |
52 | Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 11f.] |
53 | |
54 | Durchschnittlich 52 Prozent der Beschäftigten nutzten 2010 |
55 | während ihrer Arbeitszeit das Internet – auch hier waren in |
56 | den genannten Wirtschaftssegmenten noch höhere Prozentsätze |
57 | zu verzeichnen, so |
58 | |
59 | - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten von 54 |
60 | Prozent, |
61 | |
62 | - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ von |
63 | 93 Prozent und |
64 | |
65 | - im Wirtschaftszweig „Finanz- und |
66 | Versicherungsdienstleistungen“ von 86 Prozent. [FN: Vgl. |
67 | Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und |
68 | Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 17. ] |
69 | |
70 | In Summe ist zu konstatieren, dass die digitale |
71 | Durchdringung der Arbeitswelt in Deutschland bis heute |
72 | annähernd zwei Drittel aller Beschäftigten erreicht hat und |
73 | – nimmt man die regelmäßige Internetnutzung zum Maßstab – |
74 | bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten regelmäßig |
75 | „Arbeit im Netz“ erbringt. [FN: Die angeführten Daten der |
76 | amtlichen Statistik dürften „die Dynamik und das erreichte |
77 | Ausmaß digitaler Vernetzung […] eher noch unterzeichnen. Für |
78 | eine solche Annahme spricht, dass |
79 | |
80 | - zusätzliche Teile der Beschäftigten zwar nicht über einen |
81 | Internetzugang verfügen, aber gleichwohl in betriebs- bzw. |
82 | unternehmensinterne Netzwerke eingebunden sind […]; |
83 | |
84 | - der klassische PC schon heute nicht mehr die einzige |
85 | berufliche Zugangsmöglichkeit ins Internet darstellt – mehr |
86 | und mehr finden zu diesem Zweck auch zunehmend |
87 | leistungsfähige portable Geräte Anwendung […]; |
88 | als digital vernetzte Arbeit nicht nur solche zu gelten hat, |
89 | bei der Beschäftigte auf das Netz aktiv mittels eines mehr |
90 | oder minder intelligenten Endgerätes zugreifen, sondern auch |
91 | solche, in der Arbeit über Netzwerke gesteuert, kontrolliert |
92 | und überwacht wird, wobei gestaltende Zugriffe der |
93 | Betroffenen durch das technische oder organisatorische |
94 | ‚Setting‛ stark beschränkt bzw. ausgeschlossen sind – dies |
95 | ist heute beispielsweise in Call Centern und künftig bei |
96 | einer Reihe von Anwendungen des ‚ubiquitären Computings‛ der |
97 | Fall.“ Schriftliche Stellungnahme von Michael Schwemmle im |
98 | Rahmen der öffentlichen Anhörung „Auswirkungen der |
99 | Digitalisierung auf unsere Gesellschaft“ der |
100 | Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des |
101 | Deutschen Bundestages am 05. Juli 2010. A-Drs. 17(24)004-B, |
102 | S. 6 f. Abrufbar unter: |
103 | http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun |
104 | gen/20100705/A-Drs__17_24_004-B_-_Stellungnahme_Schwemmle.pd |
105 | f] Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland damit bei |
106 | beiden Indikatoren über dem EU-Durchschnitt. Dieser lag |
107 | hinsichtlich der beruflichen Computernutzung bei 51 Prozent; |
108 | mit einem Anteil von 61 Prozent belegte Deutschland hier den |
109 | sechsten Rang (Daten jeweils von 2009). „Besonders stark |
110 | verbreitet sind Computer-Arbeitsplätze in den |
111 | skandinavischen Ländern. Spitzenreiter ist Finnland mit 71 |
112 | Prozent der Beschäftigten, gefolgt von Schweden mit 68 |
113 | Prozent und Norwegen mit 66 Prozent.“ [FN: BITKOM: 61 |
114 | Prozent aller Berufstätigen arbeiten mit dem Computer. |
115 | Pressemitteilung vom 9. August 2010. Abrufbar unter: |
116 | http://www.bitkom.org/64775_64770.aspx ] Das Internet |
117 | nutzten bei ihrer Arbeit im EU-Durchschnitt 44 Prozent der |
118 | Beschäftigten; mit einem Anteil von 49 Prozent lag |
119 | Deutschland in dieser Kategorie auf Platz acht (Daten |
120 | jeweils von 2009). Auch hier stehen „an der Spitze […] die |
121 | skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden und |
122 | Norwegen mit Nutzungsraten von mehr als 60 Prozent.“ [FN: |
123 | BITKOM: Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mit dem |
124 | Internet. Pressemitteilung vom 22. März 2011. Abrufbar |
125 | unter: http://www.bitkom.org/67411_67398.aspx] |
126 | |
127 | Trotz des bereits erreichten hohen Entwicklungsstands dürfte |
128 | die Digitalisierungsdynamik in der Arbeitswelt nach wie vor |
129 | ungebrochen sein, nicht zuletzt weil technische Innovationen |
130 | – zu nennen wären aktuell etwa die Stichworte „Web 2.0 in |
131 | Unternehmen“, „Cloud Computing“ und „mobiles Internet“ – |
132 | aller Voraussicht nach zusätzliche, qualitativ veränderte |
133 | und tendenziell noch intensivere Formen des digital |
134 | vernetzten Arbeitens mit sich bringen werden. Damit werden |
135 | auch die strukturellen Veränderungen, die die digitale |
136 | Vernetzung auslöst, weiter an prägender Kraft gewinnen. |
137 | Deren herausragendes Merkmal ist ein grundlegend verändertes |
138 | Raum-, Zeit- und Organisationsgefüge von Arbeit. Digital |
139 | vernetzte Arbeit |
140 | |
141 | - muss nicht mehr an räumlich fixierten Arbeitsplätzen |
142 | erbracht werden – an Orten, für die sich die Begriffe |
143 | „Betrieb“ und „Büro“ eingebürgert haben –, sondern kann im |
144 | Grundsatz überall dort stattfinden, wo ein Netzzugang mit |
145 | ausreichender Bandbreite vorhanden ist; |
146 | |
147 | - ist nicht mehr zwingend zu festen und einheitlich |
148 | standardisierten Zeiten zu leisten, sondern wird auch |
149 | außerhalb des traditionellen „Nine-to-Five“-Schemas und über |
150 | Zeitzonen hinweg organisierbar; |
151 | |
152 | - erfordert im Falle arbeitsteilig-kooperativer Prozesse |
153 | nicht mehr die zeitgleiche physische Anwesenheit der Akteure |
154 | in einem Gebäude, sondern lässt die – auch asynchrone – |
155 | Zusammenarbeit standortverteilter Personen und Teams zu; |
156 | |
157 | - kann sich mit völlig neuen Konzepten der |
158 | Arbeitsorganisation verbinden – etwa solchen, bei denen |
159 | Beschäftigte die notwendigen Arbeitsmittel selbst zur |
160 | Verfügung stellen. |
161 | |
162 | Aus diesen Möglichkeiten ergeben sich vielfältige |
163 | Ansatzpunkte zur Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit |
164 | in der räumlichen, zeitlichen und organisatorischen |
165 | Dimension. Die aus Sicht der Enquete-Kommission zentrale |
166 | Frage ist dabei, wie diese Potenziale digital vernetzter |
167 | Arbeit entlang des gängigen Chancen-Risiken-Schemas |
168 | einzustufen sind. Einige Stichworte hierzu, beginnend mit |
169 | den Chancen: |
170 | |
171 | Räumlich, zeitlich und organisatorisch disponibles Arbeiten |
172 | kann erhebliche Autonomiespielräume für die Beschäftigten |
173 | eröffnen – und dies nicht nur in der „digitalen Bohème […] |
174 | jenseits der Festanstellung“ [Friebe, Holm/Lobo, Sascha: Wir |
175 | nennen es Arbeit. 2008, Seite folgt], sondern auch – und |
176 | quantitativ bedeutsamer – „für mehr Freiheit in der |
177 | Festanstellung“ [FN: Albers, Markus: Morgen komm ich später |
178 | rein. 2008, Seite folgt]. |
179 | |
180 | Digitale Technologien ermöglichen den Wunsch vieler |
181 | Arbeitnehmer, von zu Hause aus zu arbeiten. So arbeiteten |
182 | 2009 bereits 10 Prozent der Beschäftigten in Deutschland |
183 | regelmäßig im Home-Office. 62 Prozent der Erwerbstätigen |
184 | wünschen sich, regelmäßig von zu Hause aus zu arbeiten [FN: |
185 | Vgl. ARIS Umfrageforschung im Auftrag von BITKOM: Die |
186 | meisten Arbeitnehmer arbeiten gerne zu Hause. |
187 | Pressemitteilung vom 29. April 2009. Abrufbar unter: |
188 | http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM-Presseinfo_Home |
189 | -Office_29_04_2009.pdf ]. Der Einsatz von IT-Produkten trägt |
190 | dazu bei, persönliche Lebensziele wie die Vereinbarkeit von |
191 | Familie und Beruf zu verwirklichen. |
192 | |
193 | Neue Chancen bietet auch der Einsatz von „social |
194 | Software“, der Varianten kooperativen Arbeitens im Netz |
195 | ermöglicht: „Der Einsatz von innovativen IKT-Diensten im |
196 | Unternehmen (zum Beispiel Wikis, Web-2.0-Anwendungen) |
197 | verändert die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den |
198 | Mitarbeitern, indem sie den informellen Wissensaustausch |
199 | oder auch die Kontaktpflege fördern.“ [FN: Münchner Kreis |
200 | e.V. u. a. (Hrsg.): Zukunft und Zukunftsfähigkeit der |
201 | deutschen Informations- und Kommunikationstechnologie. 2008, |
202 | S. 51. ] So ist es beispielsweise möglich geworden, dass |
203 | mehrere Personen zusammen online an demselben Text arbeiten, |
204 | indem sie Wikis, Etherpads oder ähnliche Dienste nutzen. |
205 | Während Wikis asynchron editiert werden, erlauben Etherpads |
206 | sogar ein synchrones Arbeiten am Text. Damit wird ein raum- |
207 | und zeitübergreifendes Arbeiten möglich, aber beispielsweise |
208 | auch die gezielte Einbindung von externem Fachwissen. |
209 | |
210 | Solche erweiterten Potenziale für zeitliche, räumliche und |
211 | organisatorische Autonomie und für bessere Kooperation in |
212 | der Arbeit kommen den Wünschen von vielen Beschäftigten |
213 | entgegen, wie eine Vielzahl empirischer Befunde belegt. Auf |
214 | der anderen Seite des Spektrums von Vor- und Nachteilen, |
215 | Chancen und Herausforderungen wird – partiell auf ein und |
216 | demselben technischen Potenzial basierend wie die eben |
217 | erwähnten Aspekte – jedoch auch eine Reihe von Problemzonen |
218 | deutlich: |
219 | |
220 | Digitale Vernetzung erleichtert die räumliche Verteilung von |
221 | Arbeit im globalen Maßstab – eine wichtige Erscheinungsform |
222 | in diesem Zusammenhang ist „Offshoring“. Dies beeinflusst |
223 | nicht nur die Angebots-Nachfrage-Relationen auf den |
224 | Arbeitsmärkten, sondern auch die Kräftekonstellation |
225 | zwischen Arbeitgebern und Belegschaften in einer für |
226 | Beschäftigte und Interessenvertretungen in den |
227 | „Quellländern“ eher nachteiligen Weise, weil sich die |
228 | Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte letzterer aufgrund des |
229 | arbeitsrechtlichen Territorialitätsprinzips auf das Gebiet |
230 | des Nationalstaates beschränken. Im Zuge dieser Entgrenzung |
231 | verlieren „geografische Entfernungen als ‚natürliche’ |
232 | Konkurrenzgrenze zwischen Produktionsorten […] an |
233 | Bedeutung.“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird Demokratie im |
234 | Zeitalter der Globalisierung möglich? 1998, S. 21.] So |
235 | können erreichte Lohn-, Arbeits- und Sozialstandards |
236 | zunehmend unter Druck geraten. In einigen Regionen – so in |
237 | Osteuropa sowie in IT-Zentren Indiens – ist gleichzeitig ein |
238 | gegenläufiger Trend zu beobachten. Hatten diese Länder |
239 | zunächst aufgrund der hohen Verfügbarkeit von |
240 | IT-Spezialisten und infolge der hohen Vergütungsunterschiede |
241 | Offshoring-Aufträge akquirieren können, sind die Gehälter in |
242 | diesen Ländern überproportional gestiegen. Dies hat zusammen |
243 | mit den Kosten für Projektsteuerung und Qualitätssicherung |
244 | dazu geführt, dass Offshoring zwar zu einem integralen |
245 | Bestandteil der IT-Branche auch in Deutschland geworden ist, |
246 | die Verlagerungseffekte jedoch geringer ausfielen als |
247 | prognostiziert und das Beschäftigungsniveau in der Branche |
248 | sich weiterhin positiv entwickelt hat. [FN: Vgl. Institut |
249 | für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Berufe im |
250 | Spiegel der Statistik. 2011; sowie die Berechnungen des |
251 | Kompetenzzentrums Technik - Diversity - Chancengleichheit |
252 | e.V.: |
253 | http://www.kompetenzz.de/Daten-Fakten/Beschaeftigung-in-der- |
254 | IT-Branche-2010 |
255 | Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass – wie in |
256 | einer Ausarbeitung von ver.di festgestellt wird – der |
257 | Begriff des Offshoring wissenschaftlichen Kriterien kaum |
258 | genügen kann und sich eine einheitliche Verwendung des |
259 | Begriffs kaum durchgesetzt hat. So verweisen die Autoren des |
260 | Beitrags auf den Umstand, “[n]ur unspezifisch wird in den |
261 | gebräuchlichen Definitionen die Verlagerung von |
262 | Arbeitsplätzen in den Blick genommen, ohne jedoch die |
263 | genauen Bedingungen und Merkmale dieser Form der |
264 | Internationalisierung verbindlich und trennscharf zu |
265 | bestimmen.” Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Offshoring und die |
266 | neuen Unsicherheiten einer globalisierten Arbeitswelt, in: |
267 | ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hrsg.): |
268 | Hochseilakt – Leben und Arbeiten in der IT-Branche. 2009, S. |
269 | 23 (25).] Die Zahl der Beschäftigten in der IT-Branche stieg |
270 | zwischen 1996 und 2011 von 600.000 auf 858.000. Heute sind |
271 | darüber hinaus etwa doppelt so viele IT-Spezialisten |
272 | außerhalb der IT-Branche beschäftigt wie in der IT-Branche |
273 | selbst. Das Beschäftigungsvolumen im digitalen Sektor in |
274 | einem breiten Sinne liegt bei mehr als 2.000.000 |
275 | Beschäftigten. |
276 | |
277 | Die digitale Vernetzung von Arbeit macht auch die |
278 | traditionell rigide Trennung zwischen der beruflichen und |
279 | der privaten Sphäre brüchig. Sowohl räumlich als auch |
280 | zeitlich werden die Grenzlinien zwischen Arbeit und Freizeit |
281 | durchlässiger – ein gleichfalls als ambivalent |
282 | einzustufendes Phänomen. Zum gravierenden Problem werden |
283 | solche Entgrenzungen jedoch spätestens dann, wenn sie zu |
284 | einem „Arbeiten ohne Ende“ oder zur ständigen Verfügbarkeit |
285 | bei permanenter Erreichbarkeit führen. Solche |
286 | Arbeitsbedingungen können in hohem Maße belastend wirken. |
287 | Dies gilt auch für die Beschleunigungseffekte der digitalen |
288 | Vernetzung – etwa die Erwartung kurzer Reaktionszeiten auf |
289 | E-Mails oder andere Formen elektronischer Kommunikation. |
290 | Derzeit lässt sich jedoch auch eine Gegenbewegung zu der |
291 | beschriebenen Problematik erkennen. Auch das Management |
292 | großer Unternehmen wendet sich gegen die vereinzelt zu |
293 | beobachtende „always-on-Mentalität“. [FN: Siehe hierzu auch |
294 | Kapitel 3.3.4 Gesundes Arbeiten.] |
295 | |
296 | Die durch digitale Vernetzung immens erweiterten |
297 | Möglichkeiten, Wertschöpfung standortverteilt, hoch |
298 | modularisiert und in flexiblen, zum Teil „nur“ virtuellen |
299 | Strukturen zu organisieren, erhöht für Unternehmen den |
300 | Anreiz, Arbeitsleistung nur noch fallweise zu kaufen, ohne |
301 | Arbeitskräfte dauerhaft – u. a. mit den sozialen |
302 | Sicherungsmechanismen des klassischen |
303 | Normalarbeitsverhältnisses – an sich binden zu müssen. Da |
304 | von solchen Optionen zunehmend Gebrauch gemacht wird, steigt |
305 | die Zahl von stets nur kurzfristig und instabil, auf Dienst- |
306 | oder Werkvertragsbasis Beschäftigten in den größer werdenden |
307 | Randzonen der etablierten Unternehmen. Digitale Vernetzung |
308 | kann somit Potenziale von Entsicherung und Prekarisierung |
309 | verstärken. Dies wird insbesondere dort deutlich, wenn |
310 | Unternehmen mittels „Crowdsourcing“ Tätigkeiten, welche bis |
311 | dato von eigenen Beschäftigten erbracht wurden, auf |
312 | Plattformen im Internet weltweit ausschreiben und an |
313 | wechselnde externe Auftragnehmer vergeben. [FN: |
314 | Entsprechende Vorhaben sind etwa von IBM Deutschland bekannt |
315 | geworden: „Im Rahmen seines ‚Liquid‘-Programms will der |
316 | US-Konzern in den nächsten Jahren Tausende Arbeitsplätze in |
317 | Deutschland abbauen und Dienstleistungen verstärkt von |
318 | freien Mitarbeitern anbieten lassen. […] IBM will […] |
319 | Projekte auf Internetplattformen ausschreiben, wo sich dann |
320 | auch die ehemals fest angestellten IT-Entwickler um die Jobs |
321 | bewerben können. Nicht die Arbeit verschwindet, wohl aber |
322 | die bisherige Form des festen Arbeitsplatzes.“ Koenen, Jens: |
323 | IBM Deutschland plant Jobabbau im großen Stil. Handelsblatt |
324 | vom 01. Februar 2012, S. 6f. ] Im Zuge einer solchen |
325 | Flexibilisierung der Arbeitsorganisation erhöht sich der |
326 | Druck auf bisherige Normalarbeitsverhältnisse, die |
327 | tendenziell reduziert und durch freie Auftragsverhältnisse |
328 | ersetzt werden. |
329 | |
330 | Es entsteht Potenzial, ganze Unternehmensbereiche zu |
331 | schließen, um die zuvor dort Beschäftigten hernach als |
332 | selbstständige Freiberufler im Rahmen von Projektarbeit zu |
333 | veränderten Lohnleistungsbedingungen weiter zu beschäftigen. |
334 | Beispielsweise müssen diese Beschäftigten sich selbst um |
335 | ihre Weiterbildung kümmern und auch die soziale Absicherung |
336 | finanzieren. |
337 | |
338 | Mögen diese durch die digitale Vernetzung möglich gewordenen |
339 | Gestaltungsvarianten einerseits mit betriebswirtschaftlichen |
340 | Vorteilen verbunden sein, so führen sie auf der anderen |
341 | Seite zu einer deutlichen Absenkung des Schutzniveaus |
342 | abhängiger Erwerbstätigkeit und zu einer Beeinträchtigung |
343 | von bisherigen, an feste Beschäftigungsverhältnisse |
344 | gekoppelten Finanzierungsmechanismen sozialer Sicherung. |
345 | |
346 | Crowdsourcing bezeichnet laut Wikipedia [FN: Stand: |
347 | 21.03.2012.] „im Gegensatz zum Outsourcing |
348 | <http://de.wikipedia.org/wiki/Outsourcing> nicht die |
349 | Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen an |
350 | Drittunternehmen, sondern die Auslagerung auf die |
351 | Intelligenz und die Arbeitskraft einer Masse von |
352 | Freizeitarbeitern im Internet. Eine Schar von Experten und |
353 | Dienstleistern generiert Inhalte, löst diverse Aufgaben und |
354 | Probleme oder ist an Forschungs- und Entwicklungsprojekten |
355 | beteiligt (vgl. Schwarmintelligenz |
356 | <http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarmintelligenz>). |
357 | Crowdsourcing ist damit ein Prinzip der Arbeitsteilung, die |
358 | mit ihren positiven Spezialisierungseffekten zu den |
359 | Grundprinzipien des Wirtschaftens zählt.“ |
360 | |
361 | Crowdsourcing wird von Aktiven im Netz getrieben und erfährt |
362 | breite gesellschaftliche Akzeptanz. Als „Auslagerung von |
363 | Unternehmensaufgaben auf die Arbeitskraft einer Masse von |
364 | Freizeitarbeitern“ hat es allerdings gleichzeitig zur |
365 | Vernichtung langjährig etablierter Geschäftsmodelle und |
366 | fester Arbeitsverhältnisse in Unternehmen geführt. |
367 | Prominenteste Beispiele für auf Crowdsourcing basierende |
368 | Angebote, die in direkter Konkurrenz zu gewerblichen |
369 | Angeboten stehen, sind Wikipedia und OpenStreetMaps. |
370 | Parallel zum Aufstieg von Wikipedia wurden Neuauflagen |
371 | etablierter Enzyklopädien wie Brockhaus (2005/2006) und |
372 | Encylopaedia Britannica (2010) eingestellt sowie die |
373 | entsprechenden Belegschaften reduziert. Inzwischen beginnen |
374 | Unternehmen dem Beispiel der Netzgemeinde zu folgen und |
375 | setzen sich aktiv mit der Fragestellung auseinander, wie |
376 | sich Crowdsourcing-Ansätze kommerziell verwerten lassen. |
377 | |
378 | ---> |
379 | Siehe 3.1 Einleitung, Teil 2 |
Der Text verglichen mit der Originalversion
1 | 3.1 Einleitung |
2 | |
3 | Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann als ein |
4 | zweiphasiger Prozess verstanden werden, der sich in den |
5 | zurückliegenden Jahren rasant beschleunigt und zu |
6 | gravierenden Veränderungen geführt hat. Stand in der ersten |
7 | Phase die sukzessive Ausstattung von Büros und Fabrikhallen |
8 | mit programmgesteuerten, überwiegend jedoch noch |
9 | „stand-alone“ betriebenen digitalen Arbeitsmitteln im |
10 | Zentrum, so ist die zweite Entwicklungsetappe seit Mitte der |
11 | 1990er Jahre durch deren fortschreitende inner- und |
12 | überbetriebliche Vernetzung charakterisiert. |
13 | |
14 | Die Erwerbsarbeit in Deutschland kann heute überwiegend als |
15 | digital geprägte Arbeit definiert werden. Denn die |
16 | erwerbsbezogenen Aktivitäten werden unter maßgeblicher |
17 | Nutzung informations- und kommunikationstechnischer |
18 | Arbeitsmittel verrichtet. Ebenso bestehen die |
19 | Arbeitsgegenstände zu wesentlichen Anteilen aus |
20 | Informationen in digitalisierter Form. Zudem ist die |
21 | Erwerbsarbeit in Deutschland bereits mehrheitlich auch eine |
22 | digital vernetzte Arbeit, als sie in relevantem zeitlichen |
23 | Ausmaß mit und an informations- und |
24 | kommunikationstechnischen Geräten erbracht wird – |
25 | klassischerweise an stationären Rechnern, zunehmend aber |
26 | auch an mobilen Devices wie Notebooks, Tablets oder |
27 | Smartphones; wobei gerade aus dem Tatbestand der Vernetzung |
28 | – über das Internet oder über Unternehmensnetze – neue |
29 | Qualitäten, Potenziale und Herausforderungen resultieren. |
30 | |
31 | Als Indikatoren für die Bedeutung digital geprägter Arbeit |
32 | lassen sich zunächst der Vernetzungsgrad von Computern und |
33 | darauf aufbauend die Intensität der Internetnutzung in |
34 | deutschen Unternehmen heranziehen. Die entsprechenden |
35 | statistischen Daten zeugen von einem mittlerweile weit |
36 | fortgeschrittenen Stand der Digitalisierung im Arbeitsleben. |
37 | So belief sich der Anteil der Beschäftigten mit regelmäßiger |
38 | Computernutzung während der Arbeitszeit im Jahr 2010 im |
39 | Durchschnitt auf 63 Prozent, wobei dieser Wert in einzelnen |
40 | Wirtschaftszweigen und Unternehmensgrößenklassen noch |
41 | deutlich höher lag, zum Beispiel |
42 | |
43 | - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten bei 70 |
44 | Prozent, |
45 | |
46 | - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ bei |
47 | 96 Prozent und |
48 | |
49 | - im Wirtschaftszweig „Finanz- und |
50 | Versicherungsdienstleistungen“ bei 98 Prozent.[FN: Vgl. |
51 | Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und |
52 | Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 11f.] |
53 | |
54 | Durchschnittlich 52 Prozent der Beschäftigten nutzten 2010 |
55 | während ihrer Arbeitszeit das Internet – auch hier waren in |
56 | den genannten Wirtschaftssegmenten noch höhere Prozentsätze |
57 | zu verzeichnen, so |
58 | |
59 | - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten von 54 |
60 | Prozent, |
61 | |
62 | - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ von |
63 | 93 Prozent und |
64 | |
65 | - im Wirtschaftszweig „Finanz- und |
66 | Versicherungsdienstleistungen“ von 86 Prozent. [FN: Vgl. |
67 | Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und |
68 | Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 17. ] |
69 | |
70 | In Summe ist zu konstatieren, dass die digitale |
71 | Durchdringung der Arbeitswelt in Deutschland bis heute |
72 | annähernd zwei Drittel aller Beschäftigten erreicht hat und |
73 | – nimmt man die regelmäßige Internetnutzung zum Maßstab – |
74 | bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten regelmäßig |
75 | „Arbeit im Netz“ erbringt. [FN: Die angeführten Daten der |
76 | amtlichen Statistik dürften „die Dynamik und das erreichte |
77 | Ausmaß digitaler Vernetzung […] eher noch unterzeichnen. Für |
78 | eine solche Annahme spricht, dass |
79 | |
80 | - zusätzliche Teile der Beschäftigten zwar nicht über einen |
81 | Internetzugang verfügen, aber gleichwohl in betriebs- bzw. |
82 | unternehmensinterne Netzwerke eingebunden sind […]; |
83 | |
84 | - der klassische PC schon heute nicht mehr die einzige |
85 | berufliche Zugangsmöglichkeit ins Internet darstellt – mehr |
86 | und mehr finden zu diesem Zweck auch zunehmend |
87 | leistungsfähige portable Geräte Anwendung […]; |
88 | als digital vernetzte Arbeit nicht nur solche zu gelten hat, |
89 | bei der Beschäftigte auf das Netz aktiv mittels eines mehr |
90 | oder minder intelligenten Endgerätes zugreifen, sondern auch |
91 | solche, in der Arbeit über Netzwerke gesteuert, kontrolliert |
92 | und überwacht wird, wobei gestaltende Zugriffe der |
93 | Betroffenen durch das technische oder organisatorische |
94 | ‚Setting‛ stark beschränkt bzw. ausgeschlossen sind – dies |
95 | ist heute beispielsweise in Call Centern und künftig bei |
96 | einer Reihe von Anwendungen des ‚ubiquitären Computings‛ der |
97 | Fall.“ Schriftliche Stellungnahme von Michael Schwemmle im |
98 | Rahmen der öffentlichen Anhörung „Auswirkungen der |
99 | Digitalisierung auf unsere Gesellschaft“ der |
100 | Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des |
101 | Deutschen Bundestages am 05. Juli 2010. A-Drs. 17(24)004-B, |
102 | S. 6 f. Abrufbar unter: |
103 | http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun |
104 | gen/20100705/A-Drs__17_24_004-B_-_Stellungnahme_Schwemmle.pd |
105 | f] Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland damit bei |
106 | beiden Indikatoren über dem EU-Durchschnitt. Dieser lag |
107 | hinsichtlich der beruflichen Computernutzung bei 51 Prozent; |
108 | mit einem Anteil von 61 Prozent belegte Deutschland hier den |
109 | sechsten Rang (Daten jeweils von 2009). „Besonders stark |
110 | verbreitet sind Computer-Arbeitsplätze in den |
111 | skandinavischen Ländern. Spitzenreiter ist Finnland mit 71 |
112 | Prozent der Beschäftigten, gefolgt von Schweden mit 68 |
113 | Prozent und Norwegen mit 66 Prozent.“ [FN: BITKOM: 61 |
114 | Prozent aller Berufstätigen arbeiten mit dem Computer. |
115 | Pressemitteilung vom 9. August 2010. Abrufbar unter: |
116 | http://www.bitkom.org/64775_64770.aspx ] Das Internet |
117 | nutzten bei ihrer Arbeit im EU-Durchschnitt 44 Prozent der |
118 | Beschäftigten; mit einem Anteil von 49 Prozent lag |
119 | Deutschland in dieser Kategorie auf Platz acht (Daten |
120 | jeweils von 2009). Auch hier stehen „an der Spitze […] die |
121 | skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden und |
122 | Norwegen mit Nutzungsraten von mehr als 60 Prozent.“ [FN: |
123 | BITKOM: Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mit dem |
124 | Internet. Pressemitteilung vom 22. März 2011. Abrufbar |
125 | unter: http://www.bitkom.org/67411_67398.aspx] |
126 | |
127 | Trotz des bereits erreichten hohen Entwicklungsstands dürfte |
128 | die Digitalisierungsdynamik in der Arbeitswelt nach wie vor |
129 | ungebrochen sein, nicht zuletzt weil technische Innovationen |
130 | – zu nennen wären aktuell etwa die Stichworte „Web 2.0 in |
131 | Unternehmen“, „Cloud Computing“ und „mobiles Internet“ – |
132 | aller Voraussicht nach zusätzliche, qualitativ veränderte |
133 | und tendenziell noch intensivere Formen des digital |
134 | vernetzten Arbeitens mit sich bringen werden. Damit werden |
135 | auch die strukturellen Veränderungen, die die digitale |
136 | Vernetzung auslöst, weiter an prägender Kraft gewinnen. |
137 | Deren herausragendes Merkmal ist ein grundlegend verändertes |
138 | Raum-, Zeit- und Organisationsgefüge von Arbeit. Digital |
139 | vernetzte Arbeit |
140 | |
141 | - muss nicht mehr an räumlich fixierten Arbeitsplätzen |
142 | erbracht werden – an Orten, für die sich die Begriffe |
143 | „Betrieb“ und „Büro“ eingebürgert haben –, sondern kann im |
144 | Grundsatz überall dort stattfinden, wo ein Netzzugang mit |
145 | ausreichender Bandbreite vorhanden ist; |
146 | |
147 | - ist nicht mehr zwingend zu festen und einheitlich |
148 | standardisierten Zeiten zu leisten, sondern wird auch |
149 | außerhalb des traditionellen „Nine-to-Five“-Schemas und über |
150 | Zeitzonen hinweg organisierbar; |
151 | |
152 | - erfordert im Falle arbeitsteilig-kooperativer Prozesse |
153 | nicht mehr die zeitgleiche physische Anwesenheit der Akteure |
154 | in einem Gebäude, sondern lässt die – auch asynchrone – |
155 | Zusammenarbeit standortverteilter Personen und Teams zu; |
156 | |
157 | - kann sich mit völlig neuen Konzepten der |
158 | Arbeitsorganisation verbinden – etwa solchen, bei denen |
159 | Beschäftigte die notwendigen Arbeitsmittel selbst zur |
160 | Verfügung stellen. |
161 | |
162 | Aus diesen Möglichkeiten ergeben sich vielfältige |
163 | Ansatzpunkte zur Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit |
164 | in der räumlichen, zeitlichen und organisatorischen |
165 | Dimension. Die aus Sicht der Enquete-Kommission zentrale |
166 | Frage ist dabei, wie diese Potenziale digital vernetzter |
167 | Arbeit entlang des gängigen Chancen-Risiken-Schemas |
168 | einzustufen sind. Einige Stichworte hierzu, beginnend mit |
169 | den Chancen: |
170 | |
171 | Räumlich, zeitlich und organisatorisch disponibles Arbeiten |
172 | kann erhebliche Autonomiespielräume für die Beschäftigten |
173 | eröffnen – und dies nicht nur in der „digitalen Bohème […] |
174 | jenseits der Festanstellung“ [Friebe, Holm/Lobo, Sascha: Wir |
175 | nennen es Arbeit. 2008, Seite folgt], sondern auch – und |
176 | quantitativ bedeutsamer – „für mehr Freiheit in der |
177 | Festanstellung“ [FN: Albers, Markus: Morgen komm ich später |
178 | rein. 2008, Seite folgt]. |
179 | |
180 | Digitale Technologien ermöglichen den Wunsch vieler |
181 | Arbeitnehmer, von zu Hause aus zu arbeiten. So arbeiteten |
182 | 2009 bereits 10 Prozent der Beschäftigten in Deutschland |
183 | regelmäßig im Home-Office. 62 Prozent der Erwerbstätigen |
184 | wünschen sich, regelmäßig von zu Hause aus zu arbeiten [FN: |
185 | Vgl. ARIS Umfrageforschung im Auftrag von BITKOM: Die |
186 | meisten Arbeitnehmer arbeiten gerne zu Hause. |
187 | Pressemitteilung vom 29. April 2009. Abrufbar unter: |
188 | http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM-Presseinfo_Home |
189 | -Office_29_04_2009.pdf ]. Der Einsatz von IT-Produkten trägt |
190 | dazu bei, persönliche Lebensziele wie die Vereinbarkeit von |
191 | Familie und Beruf zu verwirklichen. |
192 | |
193 | Neue Chancen bietet auch der Einsatz von „social |
194 | Software“, der Varianten kooperativen Arbeitens im Netz |
195 | ermöglicht: „Der Einsatz von innovativen IKT-Diensten im |
196 | Unternehmen (zum Beispiel Wikis, Web-2.0-Anwendungen) |
197 | verändert die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den |
198 | Mitarbeitern, indem sie den informellen Wissensaustausch |
199 | oder auch die Kontaktpflege fördern.“ [FN: Münchner Kreis |
200 | e.V. u. a. (Hrsg.): Zukunft und Zukunftsfähigkeit der |
201 | deutschen Informations- und Kommunikationstechnologie. 2008, |
202 | S. 51. ] So ist es beispielsweise möglich geworden, dass |
203 | mehrere Personen zusammen online an demselben Text arbeiten, |
204 | indem sie Wikis, Etherpads oder ähnliche Dienste nutzen. |
205 | Während Wikis asynchron editiert werden, erlauben Etherpads |
206 | sogar ein synchrones Arbeiten am Text. Damit wird ein raum- |
207 | und zeitübergreifendes Arbeiten möglich, aber beispielsweise |
208 | auch die gezielte Einbindung von externem Fachwissen. |
209 | |
210 | Solche erweiterten Potenziale für zeitliche, räumliche und |
211 | organisatorische Autonomie und für bessere Kooperation in |
212 | der Arbeit kommen den Wünschen von vielen Beschäftigten |
213 | entgegen, wie eine Vielzahl empirischer Befunde belegt. Auf |
214 | der anderen Seite des Spektrums von Vor- und Nachteilen, |
215 | Chancen und Herausforderungen wird – partiell auf ein und |
216 | demselben technischen Potenzial basierend wie die eben |
217 | erwähnten Aspekte – jedoch auch eine Reihe von Problemzonen |
218 | deutlich: |
219 | |
220 | Digitale Vernetzung erleichtert die räumliche Verteilung von |
221 | Arbeit im globalen Maßstab – eine wichtige Erscheinungsform |
222 | in diesem Zusammenhang ist „Offshoring“. Dies beeinflusst |
223 | nicht nur die Angebots-Nachfrage-Relationen auf den |
224 | Arbeitsmärkten, sondern auch die Kräftekonstellation |
225 | zwischen Arbeitgebern und Belegschaften in einer für |
226 | Beschäftigte und Interessenvertretungen in den |
227 | „Quellländern“ eher nachteiligen Weise, weil sich die |
228 | Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte letzterer aufgrund des |
229 | arbeitsrechtlichen Territorialitätsprinzips auf das Gebiet |
230 | des Nationalstaates beschränken. Im Zuge dieser Entgrenzung |
231 | verlieren „geografische Entfernungen als ‚natürliche’ |
232 | Konkurrenzgrenze zwischen Produktionsorten […] an |
233 | Bedeutung.“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird Demokratie im |
234 | Zeitalter der Globalisierung möglich? 1998, S. 21.] So |
235 | können erreichte Lohn-, Arbeits- und Sozialstandards |
236 | zunehmend unter Druck geraten. In einigen Regionen – so in |
237 | Osteuropa sowie in IT-Zentren Indiens – ist gleichzeitig ein |
238 | gegenläufiger Trend zu beobachten. Hatten diese Länder |
239 | zunächst aufgrund der hohen Verfügbarkeit von |
240 | IT-Spezialisten und infolge der hohen Vergütungsunterschiede |
241 | Offshoring-Aufträge akquirieren können, sind die Gehälter in |
242 | diesen Ländern überproportional gestiegen. Dies hat zusammen |
243 | mit den Kosten für Projektsteuerung und Qualitätssicherung |
244 | dazu geführt, dass Offshoring zwar zu einem integralen |
245 | Bestandteil der IT-Branche auch in Deutschland geworden ist, |
246 | die Verlagerungseffekte jedoch geringer ausfielen als |
247 | prognostiziert und das Beschäftigungsniveau in der Branche |
248 | sich weiterhin positiv entwickelt hat. [FN: Vgl. Institut |
249 | für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Berufe im |
250 | Spiegel der Statistik. 2011; sowie die Berechnungen des |
251 | Kompetenzzentrums Technik - Diversity - Chancengleichheit |
252 | e.V.: |
253 | http://www.kompetenzz.de/Daten-Fakten/Beschaeftigung-in-der- |
254 | IT-Branche-2010 |
255 | Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass – wie in |
256 | einer Ausarbeitung von ver.di festgestellt wird – der |
257 | Begriff des Offshoring wissenschaftlichen Kriterien kaum |
258 | genügen kann und sich eine einheitliche Verwendung des |
259 | Begriffs kaum durchgesetzt hat. So verweisen die Autoren des |
260 | Beitrags auf den Umstand, “[n]ur unspezifisch wird in den |
261 | gebräuchlichen Definitionen die Verlagerung von |
262 | Arbeitsplätzen in den Blick genommen, ohne jedoch die |
263 | genauen Bedingungen und Merkmale dieser Form der |
264 | Internationalisierung verbindlich und trennscharf zu |
265 | bestimmen.” Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Offshoring und die |
266 | neuen Unsicherheiten einer globalisierten Arbeitswelt, in: |
267 | ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hrsg.): |
268 | Hochseilakt – Leben und Arbeiten in der IT-Branche. 2009, S. |
269 | 23 (25).] Die Zahl der Beschäftigten in der IT-Branche stieg |
270 | zwischen 1996 und 2011 von 600.000 auf 858.000. Heute sind |
271 | darüber hinaus etwa doppelt so viele IT-Spezialisten |
272 | außerhalb der IT-Branche beschäftigt wie in der IT-Branche |
273 | selbst. Das Beschäftigungsvolumen im digitalen Sektor in |
274 | einem breiten Sinne liegt bei mehr als 2.000.000 |
275 | Beschäftigten. |
276 | |
277 | Die digitale Vernetzung von Arbeit macht auch die |
278 | traditionell rigide Trennung zwischen der beruflichen und |
279 | der privaten Sphäre brüchig. Sowohl räumlich als auch |
280 | zeitlich werden die Grenzlinien zwischen Arbeit und Freizeit |
281 | durchlässiger – ein gleichfalls als ambivalent |
282 | einzustufendes Phänomen. Zum gravierenden Problem werden |
283 | solche Entgrenzungen jedoch spätestens dann, wenn sie zu |
284 | einem „Arbeiten ohne Ende“ oder zur ständigen Verfügbarkeit |
285 | bei permanenter Erreichbarkeit führen. Solche |
286 | Arbeitsbedingungen können in hohem Maße belastend wirken. |
287 | Dies gilt auch für die Beschleunigungseffekte der digitalen |
288 | Vernetzung – etwa die Erwartung kurzer Reaktionszeiten auf |
289 | E-Mails oder andere Formen elektronischer Kommunikation. |
290 | Derzeit lässt sich jedoch auch eine Gegenbewegung zu der |
291 | beschriebenen Problematik erkennen. Auch das Management |
292 | großer Unternehmen wendet sich gegen die vereinzelt zu |
293 | beobachtende „always-on-Mentalität“. [FN: Siehe hierzu auch |
294 | Kapitel 3.3.4 Gesundes Arbeiten.] |
295 | |
296 | Die durch digitale Vernetzung immens erweiterten |
297 | Möglichkeiten, Wertschöpfung standortverteilt, hoch |
298 | modularisiert und in flexiblen, zum Teil „nur“ virtuellen |
299 | Strukturen zu organisieren, erhöht für Unternehmen den |
300 | Anreiz, Arbeitsleistung nur noch fallweise zu kaufen, ohne |
301 | Arbeitskräfte dauerhaft – u. a. mit den sozialen |
302 | Sicherungsmechanismen des klassischen |
303 | Normalarbeitsverhältnisses – an sich binden zu müssen. Da |
304 | von solchen Optionen zunehmend Gebrauch gemacht wird, steigt |
305 | die Zahl von stets nur kurzfristig und instabil, auf Dienst- |
306 | oder Werkvertragsbasis Beschäftigten in den größer werdenden |
307 | Randzonen der etablierten Unternehmen. Digitale Vernetzung |
308 | kann somit Potenziale von Entsicherung und Prekarisierung |
309 | verstärken. Dies wird insbesondere dort deutlich, wenn |
310 | Unternehmen mittels „Crowdsourcing“ Tätigkeiten, welche bis |
311 | dato von eigenen Beschäftigten erbracht wurden, auf |
312 | Plattformen im Internet weltweit ausschreiben und an |
313 | wechselnde externe Auftragnehmer vergeben. [FN: |
314 | Entsprechende Vorhaben sind etwa von IBM Deutschland bekannt |
315 | geworden: „Im Rahmen seines ‚Liquid‘-Programms will der |
316 | US-Konzern in den nächsten Jahren Tausende Arbeitsplätze in |
317 | Deutschland abbauen und Dienstleistungen verstärkt von |
318 | freien Mitarbeitern anbieten lassen. […] IBM will […] |
319 | Projekte auf Internetplattformen ausschreiben, wo sich dann |
320 | auch die ehemals fest angestellten IT-Entwickler um die Jobs |
321 | bewerben können. Nicht die Arbeit verschwindet, wohl aber |
322 | die bisherige Form des festen Arbeitsplatzes.“ Koenen, Jens: |
323 | IBM Deutschland plant Jobabbau im großen Stil. Handelsblatt |
324 | vom 01. Februar 2012, S. 6f. ] Im Zuge einer solchen |
325 | Flexibilisierung der Arbeitsorganisation erhöht sich der |
326 | Druck auf bisherige Normalarbeitsverhältnisse, die |
327 | tendenziell reduziert und durch freie Auftragsverhältnisse |
328 | ersetzt werden. |
329 | |
330 | Es entsteht Potenzial, ganze Unternehmensbereiche zu |
331 | schließen, um die zuvor dort Beschäftigten hernach als |
332 | selbstständige Freiberufler im Rahmen von Projektarbeit zu |
333 | veränderten Lohnleistungsbedingungen weiter zu beschäftigen. |
334 | Beispielsweise müssen diese Beschäftigten sich selbst um |
335 | ihre Weiterbildung kümmern und auch die soziale Absicherung |
336 | finanzieren. |
337 | |
338 | Mögen diese durch die digitale Vernetzung möglich gewordenen |
339 | Gestaltungsvarianten einerseits mit betriebswirtschaftlichen |
340 | Vorteilen verbunden sein, so führen sie auf der anderen |
341 | Seite zu einer deutlichen Absenkung des Schutzniveaus |
342 | abhängiger Erwerbstätigkeit und zu einer Beeinträchtigung |
343 | von bisherigen, an feste Beschäftigungsverhältnisse |
344 | gekoppelten Finanzierungsmechanismen sozialer Sicherung. |
345 | |
346 | Crowdsourcing bezeichnet laut Wikipedia [FN: Stand: |
347 | 21.03.2012.] „im Gegensatz zum Outsourcing |
348 | <http://de.wikipedia.org/wiki/Outsourcing> nicht die |
349 | Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen an |
350 | Drittunternehmen, sondern die Auslagerung auf die |
351 | Intelligenz und die Arbeitskraft einer Masse von |
352 | Freizeitarbeitern im Internet. Eine Schar von Experten und |
353 | Dienstleistern generiert Inhalte, löst diverse Aufgaben und |
354 | Probleme oder ist an Forschungs- und Entwicklungsprojekten |
355 | beteiligt (vgl. Schwarmintelligenz |
356 | <http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarmintelligenz>). |
357 | Crowdsourcing ist damit ein Prinzip der Arbeitsteilung, die |
358 | mit ihren positiven Spezialisierungseffekten zu den |
359 | Grundprinzipien des Wirtschaftens zählt.“ |
360 | |
361 | Crowdsourcing wird von Aktiven im Netz getrieben und erfährt |
362 | breite gesellschaftliche Akzeptanz. Als „Auslagerung von |
363 | Unternehmensaufgaben auf die Arbeitskraft einer Masse von |
364 | Freizeitarbeitern“ hat es allerdings gleichzeitig zur |
365 | Vernichtung langjährig etablierter Geschäftsmodelle und |
366 | fester Arbeitsverhältnisse in Unternehmen geführt. |
367 | Prominenteste Beispiele für auf Crowdsourcing basierende |
368 | Angebote, die in direkter Konkurrenz zu gewerblichen |
369 | Angeboten stehen, sind Wikipedia und OpenStreetMaps. |
370 | Parallel zum Aufstieg von Wikipedia wurden Neuauflagen |
371 | etablierter Enzyklopädien wie Brockhaus (2005/2006) und |
372 | Encylopaedia Britannica (2010) eingestellt sowie die |
373 | entsprechenden Belegschaften reduziert. Inzwischen beginnen |
374 | Unternehmen dem Beispiel der Netzgemeinde zu folgen und |
375 | setzen sich aktiv mit der Fragestellung auseinander, wie |
376 | sich Crowdsourcing-Ansätze kommerziell verwerten lassen. |
377 | |
378 | ---> |
379 | Siehe 3.1 Einleitung, Teil 2 |
-
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