3.1 Einleitung

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    1 3.1 Einleitung
    2
    3 Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann als ein
    4 zweiphasiger Prozess verstanden werden, der sich in den
    5 zurückliegenden Jahren rasant beschleunigt und zu
    6 gravierenden Veränderungen geführt hat. Stand in der ersten
    7 Phase die sukzessive Ausstattung von Büros und Fabrikhallen
    8 mit programmgesteuerten, überwiegend jedoch noch
    9 „stand-alone“ betriebenen digitalen Arbeitsmitteln im
    10 Zentrum, so ist die zweite Entwicklungsetappe seit Mitte
    11 der 1990er Jahre durch deren fortschreitende inner- und
    12 überbetriebliche Vernetzung charakterisiert.
    13
    14 Die Erwerbsarbeit in Deutschland kann heute überwiegend als
    15 digital geprägte Arbeit definiert werden. Denn die
    16 erwerbsbezogenen Aktivitäten werden unter maßgeblicher
    17 Nutzung informations- und kommunikationstechnischer
    18 Arbeitsmittel verrichtet. Ebenso bestehen die
    19 Arbeitsgegenstände zu wesentlichen Anteilen aus
    20 Informationen in digitalisierter Form. Zudem ist die
    21 Erwerbsarbeit in Deutschland bereits mehrheitlich auch eine
    22 digital vernetzte Arbeit, als sie in relevantem zeitlichen
    23 Ausmaß mit und an informations- und
    24 kommunikationstechnischen Geräten erbracht wird –
    25 klassischerweise an stationären Rechnern, zunehmend aber
    26 auch an mobilen Devices wie Notebooks, Tablets oder
    27 Smartphones; wobei gerade aus dem Tatbestand der Vernetzung
    28 – über das Internet oder über Unternehmensnetze – neue
    29 Qualitäten, Potenziale und Herausforderungen resultieren.
    30
    31 Als Indikatoren für die Bedeutung digital geprägter Arbeit
    32 lassen sich zunächst der Vernetzungsgrad von Computern und
    33 darauf aufbauend die Intensität der Internetnutzung in
    34 deutschen Unternehmen heranziehen. Die entsprechenden
    35 statistischen Daten zeugen von einem mittlerweile weit
    36 fortgeschrittenen Stand der Digitalisierung im
    37 Arbeitsleben. So belief sich der Anteil der Beschäftigten
    38 mit regelmäßiger Computernutzung während der Arbeitszeit im
    39 Jahr 2010 im Durchschnitt auf 63 Prozent, wobei dieser Wert
    40 in einzelnen Wirtschaftszweigen und
    41 Unternehmensgrößenklassen noch deutlich höher lag, zum
    42 Beispiel
    43
    44 - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten bei 70
    45 Prozent,
    46
    47 - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ bei
    48 96 Prozent und
    49
    50 - im Wirtschaftszweig „Finanz- und
    51 Versicherungsdienstleistungen“ bei 98 Prozent.[FN: Vgl.
    52 Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und
    53 Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 11f.]
    54
    55 Durchschnittlich 52 Prozent der Beschäftigten nutzten 2010
    56 während ihrer Arbeitszeit das Internet – auch hier waren in
    57 den genannten Wirtschaftssegmenten noch höhere Prozentsätze
    58 zu verzeichnen, so
    59
    60 - in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten von 54
    61 Prozent,
    62
    63 - im Wirtschaftszweig „Information und Kommunikation“ von
    64 93 Prozent und
    65
    66 - im Wirtschaftszweig „Finanz- und
    67 Versicherungsdienstleistungen“ von 86 Prozent. [FN: Vgl.
    68 Statistisches Bundesamt: Nutzung von Informations- und
    69 Kommunikationstechnologie in Unternehmen. 2010, S. 17. ]
    70
    71 In Summe ist zu konstatieren, dass die digitale
    72 Durchdringung der Arbeitswelt in Deutschland bis heute
    73 annähernd zwei Drittel aller Beschäftigten erreicht hat und
    74 – nimmt man die regelmäßige Internetnutzung zum Maßstab –
    75 bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten regelmäßig
    76 „Arbeit im Netz“ erbringt. [FN: Die angeführten Daten der
    77 amtlichen Statistik dürften „die Dynamik und das erreichte
    78 Ausmaß digitaler Vernetzung [...] eher noch unterzeichnen.
    79 Für eine solche Annahme spricht, dass
    80
    81 - zusätzliche Teile der Beschäftigten zwar nicht über einen
    82 Internetzugang verfügen, aber gleichwohl in betriebs- bzw.
    83 unternehmensinterne Netzwerke eingebunden sind [...];
    84
    85 - der klassische PC schon heute nicht mehr die einzige
    86 berufliche Zugangsmöglichkeit ins Internet darstellt – mehr
    87 und mehr finden zu diesem Zweck auch zunehmend
    88 leistungsfähige portable Geräte Anwendung [...];
    89 als digital vernetzte Arbeit nicht nur solche zu gelten
    90 hat, bei der Beschäftigte auf das Netz aktiv mittels eines
    91 mehr oder minder intelligenten Endgerätes zugreifen,
    92 sondern auch solche, in der Arbeit über Netzwerke
    93 gesteuert, kontrolliert und überwacht wird, wobei
    94 gestaltende Zugriffe der Betroffenen durch das technische
    95 oder organisatorische ‚Setting‛ stark beschränkt bzw.
    96 ausgeschlossen sind – dies ist heute beispielsweise in Call
    97 Centern und künftig bei einer Reihe von Anwendungen des
    98 ‚ubiquitären Computings‛ der Fall.“ Schriftliche
    99 Stellungnahme von Michael Schwemmle im Rahmen der
    100 öffentlichen Anhörung „Auswirkungen der Digitalisierung auf
    101 unsere Gesellschaft“ der Enquete-Kommission Internet und
    102 digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages am 05. Juli
    103 2010. A-Drs. 17(24)004-B, S. 6 f. Abrufbar unter:
    104 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
    105 gen/20100705/A-Drs__17_24_004-B_-_Stellungnahme_Schwemmle.pd
    106 f] Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland damit bei
    107 beiden Indikatoren über dem EU-Durchschnitt. Dieser lag
    108 hinsichtlich der beruflichen Computernutzung bei 51
    109 Prozent; mit einem Anteil von 61 Prozent belegte
    110 Deutschland hier den sechsten Rang (Daten jeweils von
    111 2009). „Besonders stark verbreitet sind
    112 Computer-Arbeitsplätze in den skandinavischen Ländern.
    113 Spitzenreiter ist Finnland mit 71 Prozent der
    114 Beschäftigten, gefolgt von Schweden mit 68 Prozent und
    115 Norwegen mit 66 Prozent.“ [FN: BITKOM: 61 Prozent aller
    116 Berufstätigen arbeiten mit dem Computer. Pressemitteilung
    117 vom 9. August 2010. Abrufbar unter:
    118 http://www.bitkom.org/64775_64770.aspx ] Das Internet
    119 nutzten bei ihrer Arbeit im EU-Durchschnitt 44 Prozent der
    120 Beschäftigten; mit einem Anteil von 49 Prozent lag
    121 Deutschland in dieser Kategorie auf Platz acht (Daten
    122 jeweils von 2009). Auch hier stehen „an der Spitze [...]
    123 die skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden und
    124 Norwegen mit Nutzungsraten von mehr als 60 Prozent.“ [FN:
    125 BITKOM: Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mit dem
    126 Internet. Pressemitteilung vom 22. März 2011. Abrufbar
    127 unter: http://www.bitkom.org/67411_67398.aspx]
    128
    129 Trotz des bereits erreichten hohen Entwicklungsstands
    130 dürfte die Digitalisierungsdynamik in der Arbeitswelt nach
    131 wie vor ungebrochen sein, nicht zuletzt weil technische
    132 Innovationen – zu nennen wären aktuell etwa die Stichworte
    133 „Web 2.0 in Unternehmen“, „Cloud Computing“ und „mobiles
    134 Internet“ – aller Voraussicht nach zusätzliche, qualitativ
    135 veränderte und tendenziell noch intensivere Formen des
    136 digital vernetzten Arbeitens mit sich bringen werden. Damit
    137 werden auch die strukturellen Veränderungen, die die
    138 digitale Vernetzung auslöst, weiter an prägender Kraft
    139 gewinnen. Deren herausragendes Merkmal ist ein grundlegend
    140 verändertes Raum-, Zeit- und Organisationsgefüge von
    141 Arbeit. Digital vernetzte Arbeit
    142
    143 - muss nicht mehr an räumlich fixierten Arbeitsplätzen
    144 erbracht werden – an Orten, für die sich die Begriffe
    145 „Betrieb“ und „Büro“ eingebürgert haben –, sondern kann im
    146 Grundsatz überall dort stattfinden, wo ein Netzzugang mit
    147 ausreichender Bandbreite vorhanden ist;
    148
    149 - ist nicht mehr zwingend zu festen und einheitlich
    150 standardisierten Zeiten zu leisten, sondern wird auch
    151 außerhalb des traditionellen „Nine-to-Five“-Schemas und
    152 über Zeitzonen hinweg organisierbar;
    153
    154 - erfordert im Falle arbeitsteilig-kooperativer Prozesse
    155 nicht mehr die zeitgleiche physische Anwesenheit der
    156 Akteure in einem Gebäude, sondern lässt die – auch
    157 asynchrone – Zusammenarbeit standortverteilter Personen und
    158 Teams zu;
    159
    160 - kann sich mit völlig neuen Konzepten der
    161 Arbeitsorganisation verbinden – etwa solchen, bei denen
    162 Beschäftigte die notwendigen Arbeitsmittel selbst zur
    163 Verfügung stellen.
    164
    165 Aus diesen Möglichkeiten ergeben sich vielfältige
    166 Ansatzpunkte zur Entgrenzung und Flexibilisierung von
    167 Arbeit in der räumlichen, zeitlichen und organisatorischen
    168 Dimension. Die aus Sicht der Enquete-Kommission zentrale
    169 Frage ist dabei, wie diese Potenziale digital vernetzter
    170 Arbeit entlang des gängigen Chancen-Risiken-Schemas
    171 einzustufen sind. Einige Stichworte hierzu, beginnend mit
    172 den Chancen:
    173
    174 Räumlich, zeitlich und organisatorisch disponibles Arbeiten
    175 kann erhebliche Autonomiespielräume für die Beschäftigten
    176 eröffnen – und dies nicht nur in der „digitalen Bohème
    177 [...] jenseits der Festanstellung“ [Friebe, Holm/Lobo,
    178 Sascha: Wir nennen es Arbeit. 2008, Seite folgt], sondern
    179 auch – und quantitativ bedeutsamer – „für mehr Freiheit in
    180 der Festanstellung“ [FN: Albers, Markus: Morgen komm ich
    181 später rein. 2008, Seite folgt].
    182
    183  Digitale Technologien ermöglichen den Wunsch vieler
    184 Arbeitnehmer, von zu Hause aus zu arbeiten. So arbeiteten
    185 2009 bereits 10 Prozent der Beschäftigten in Deutschland
    186 regelmäßig im Home-Office. 62 Prozent der Erwerbstätigen
    187 wünschen sich, regelmäßig von zu Hause aus zu arbeiten [FN:
    188 Vgl. ARIS Umfrageforschung im Auftrag von BITKOM: Die
    189 meisten Arbeitnehmer arbeiten gerne zu Hause.
    190 Pressemitteilung vom 29. April 2009. Abrufbar unter:
    191 http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM-Presseinfo_Home
    192 -Office_29_04_2009.pdf ]. Der Einsatz von IT-Produkten
    193 trägt dazu bei, persönliche Lebensziele wie die
    194 Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verwirklichen.
    195
    196  Neue Chancen bietet auch der Einsatz von „social
    197 Software“, der Varianten kooperativen Arbeitens im Netz
    198 ermöglicht: „Der Einsatz von innovativen IKT-Diensten im
    199 Unternehmen (zum Beispiel Wikis, Web-2.0-Anwendungen)
    200 verändert die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den
    201 Mitarbeitern, indem sie den informellen Wissensaustausch
    202 oder auch die Kontaktpflege fördern.“ [FN: Münchner Kreis
    203 e.V. u. a. (Hrsg.): Zukunft und Zukunftsfähigkeit der
    204 deutschen Informations- und Kommunikationstechnologie.
    205 2008, S. 51. ] So ist es beispielsweise möglich geworden,
    206 dass mehrere Personen zusammen online an demselben Text
    207 arbeiten, indem sie Wikis, Etherpads oder ähnliche Dienste
    208 nutzen. Während Wikis asynchron editiert werden, erlauben
    209 Etherpads sogar ein synchrones Arbeiten am Text. Damit wird
    210 ein raum- und zeitübergreifendes Arbeiten möglich, aber
    211 beispielsweise auch die gezielte Einbindung von externem
    212 Fachwissen.
    213
    214 Solche erweiterten Potenziale für zeitliche, räumliche und
    215 organisatorische Autonomie und für bessere Kooperation in
    216 der Arbeit kommen den Wünschen von vielen Beschäftigten
    217 entgegen, wie eine Vielzahl empirischer Befunde belegt. Auf
    218 der anderen Seite des Spektrums von Vor- und Nachteilen,
    219 Chancen und Herausforderungen wird – partiell auf ein und
    220 demselben technischen Potenzial basierend wie die eben
    221 erwähnten Aspekte – jedoch auch eine Reihe von Problemzonen
    222 deutlich:
    223
    224 Digitale Vernetzung erleichtert die räumliche Verteilung
    225 von Arbeit im globalen Maßstab – eine wichtige
    226 Erscheinungsform in diesem Zusammenhang ist „Offshoring“.
    227 Dies beeinflusst nicht nur die
    228 Angebots-Nachfrage-Relationen auf den Arbeitsmärkten,
    229 sondern auch die Kräftekonstellation zwischen Arbeitgebern
    230 und Belegschaften in einer für Beschäftigte und
    231 Interessenvertretungen in den „Quellländern“ eher
    232 nachteiligen Weise, weil sich die Mitwirkungs- und
    233 Mitbestimmungsrechte letzterer aufgrund des
    234 arbeitsrechtlichen Territorialitätsprinzips auf das Gebiet
    235 des Nationalstaates beschränken. Im Zuge dieser Entgrenzung
    236 verlieren „geografische Entfernungen als ‚natürliche’
    237 Konkurrenzgrenze zwischen Produktionsorten [...] an
    238 Bedeutung.“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird Demokratie im
    239 Zeitalter der Globalisierung möglich? 1998, S. 21.] So
    240 können erreichte Lohn-, Arbeits- und Sozialstandards
    241 zunehmend unter Druck geraten. In einigen Regionen – so in
    242 Osteuropa sowie in IT-Zentren Indiens – ist gleichzeitig
    243 ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Hatten diese Länder
    244 zunächst aufgrund der hohen Verfügbarkeit von
    245 IT-Spezialisten und infolge der hohen
    246 Vergütungsunterschiede Offshoring-Aufträge akquirieren
    247 können, sind die Gehälter in diesen Ländern
    248 überproportional gestiegen. Dies hat zusammen mit den
    249 Kosten für Projektsteuerung und Qualitätssicherung dazu
    250 geführt, dass Offshoring zwar zu einem integralen
    251 Bestandteil der IT-Branche auch in Deutschland geworden
    252 ist, die Verlagerungseffekte jedoch geringer ausfielen als
    253 prognostiziert und das Beschäftigungsniveau in der Branche
    254 sich weiterhin positiv entwickelt hat. [FN: Vgl. Institut
    255 für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Berufe im
    256 Spiegel der Statistik. 2011; sowie die Berechnungen des
    257 Kompetenzzentrums Technik - Diversity - Chancengleichheit
    258 e.V.:
    259 http://www.kompetenzz.de/Daten-Fakten/Beschaeftigung-in-der-
    260 IT-Branche-2010
    261  Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass – wie in
    262 einer Ausarbeitung von ver.di festgestellt wird – der
    263 Begriff des Offshoring wissenschaftlichen Kriterien kaum
    264 genügen kann und sich eine einheitliche Verwendung des
    265 Begriffs kaum durchgesetzt hat. So verweisen die Autoren
    266 des Beitrags auf den Umstand, “[n]ur unspezifisch wird in
    267 den gebräuchlichen Definitionen die Verlagerung von
    268 Arbeitsplätzen in den Blick genommen, ohne jedoch die
    269 genauen Bedingungen und Merkmale dieser Form der
    270 Internationalisierung verbindlich und trennscharf zu
    271 bestimmen.” Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Offshoring und die
    272 neuen Unsicherheiten einer globalisierten Arbeitswelt, in:
    273 ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hrsg.):
    274 Hochseilakt – Leben und Arbeiten in der IT-Branche. 2009,
    275 S. 23 (25).] Die Zahl der Beschäftigten in der IT-Branche
    276 stieg zwischen 1996 und 2011 von 600.000 auf 858.000. Heute
    277 sind darüber hinaus etwa doppelt so viele IT-Spezialisten
    278 außerhalb der IT-Branche beschäftigt wie in der IT-Branche
    279 selbst. Das Beschäftigungsvolumen im digitalen Sektor in
    280 einem breiten Sinne liegt bei mehr als 2.000.000
    281 Beschäftigten.
    282
    283  Die digitale Vernetzung von Arbeit macht auch die
    284 traditionell rigide Trennung zwischen der beruflichen und
    285 der privaten Sphäre brüchig. Sowohl räumlich als auch
    286 zeitlich werden die Grenzlinien zwischen Arbeit und
    287 Freizeit durchlässiger – ein gleichfalls als ambivalent
    288 einzustufendes Phänomen. Zum gravierenden Problem werden
    289 solche Entgrenzungen jedoch spätestens dann, wenn sie zu
    290 einem „Arbeiten ohne Ende“ oder zur ständigen Verfügbarkeit
    291 bei permanenter Erreichbarkeit führen. Solche
    292 Arbeitsbedingungen können in hohem Maße belastend wirken.
    293 Dies gilt auch für die Beschleunigungseffekte der digitalen
    294 Vernetzung – etwa die Erwartung kurzer Reaktionszeiten auf
    295 E-Mails oder andere Formen elektronischer Kommunikation.
    296 Derzeit lässt sich jedoch auch eine Gegenbewegung zu der
    297 beschriebenen Problematik erkennen. Auch das Management
    298 großer Unternehmen wendet sich gegen die vereinzelt zu
    299 beobachtende „always-on-Mentalität“. [FN: Siehe hierzu auch
    300 Kapitel 3.3.4 Gesundes Arbeiten.]
    301
    302  Die durch digitale Vernetzung immens erweiterten
    303 Möglichkeiten, Wertschöpfung standortverteilt, hoch
    304 modularisiert und in flexiblen, zum Teil „nur“ virtuellen
    305 Strukturen zu organisieren, erhöht für Unternehmen den
    306 Anreiz, Arbeitsleistung nur noch fallweise zu kaufen, ohne
    307 Arbeitskräfte dauerhaft – u. a. mit den sozialen
    308 Sicherungsmechanismen des klassischen
    309 Normalarbeitsverhältnisses – an sich binden zu müssen. Da
    310 von solchen Optionen zunehmend Gebrauch gemacht wird,
    311 steigt die Zahl von stets nur kurzfristig und instabil, auf
    312 Dienst- oder Werkvertragsbasis Beschäftigten in den größer
    313 werdenden Randzonen der etablierten Unternehmen. Digitale
    314 Vernetzung kann somit Potenziale von Entsicherung und
    315 Prekarisierung verstärken. Dies wird insbesondere dort
    316 deutlich, wenn Unternehmen mittels „Crowdsourcing“
    317 Tätigkeiten, welche bis dato von eigenen Beschäftigten
    318 erbracht wurden, auf Plattformen im Internet weltweit
    319 ausschreiben und an wechselnde externe Auftragnehmer
    320 vergeben. [FN: Entsprechende Vorhaben sind etwa von IBM
    321 Deutschland bekannt geworden: „Im Rahmen seines
    322 ‚Liquid‘-Programms will der US-Konzern in den nächsten
    323 Jahren Tausende Arbeitsplätze in Deutschland abbauen und
    324 Dienstleistungen verstärkt von freien Mitarbeitern anbieten
    325 lassen. [...] IBM will [...] Projekte auf
    326 Internetplattformen ausschreiben, wo sich dann auch die
    327 ehemals fest angestellten IT-Entwickler um die Jobs
    328 bewerben können. Nicht die Arbeit verschwindet, wohl aber
    329 die bisherige Form des festen Arbeitsplatzes.“ Koenen,
    330 Jens: IBM Deutschland plant Jobabbau im großen Stil.
    331 Handelsblatt vom 01. Februar 2012, S. 6f. ] Im Zuge einer
    332 solchen Flexibilisierung der Arbeitsorganisation erhöht
    333 sich der Druck auf bisherige Normalarbeitsverhältnisse, die
    334 tendenziell reduziert und durch freie Auftragsverhältnisse
    335 ersetzt werden.
    336
    337 Es entsteht Potenzial, ganze Unternehmensbereiche zu
    338 schließen, um die zuvor dort Beschäftigten hernach als
    339 selbstständige Freiberufler im Rahmen von Projektarbeit zu
    340 veränderten Lohnleistungsbedingungen weiter zu
    341 beschäftigen. Beispielsweise müssen diese Beschäftigten
    342 sich selbst um ihre Weiterbildung kümmern und auch die
    343 soziale Absicherung finanzieren.
    344
    345 Mögen diese durch die digitale Vernetzung möglich
    346 gewordenen Gestaltungsvarianten einerseits mit
    347 betriebswirtschaftlichen Vorteilen verbunden sein, so
    348 führen sie auf der anderen Seite zu einer deutlichen
    349 Absenkung des Schutzniveaus abhängiger Erwerbstätigkeit und
    350 zu einer Beeinträchtigung von bisherigen, an feste
    351 Beschäftigungsverhältnisse gekoppelten
    352 Finanzierungsmechanismen sozialer Sicherung.
    353
    354  Crowdsourcing bezeichnet laut Wikipedia [FN: Stand:
    355 21.03.2012.] „im Gegensatz zum Outsourcing
    356 <http://de.wikipedia.org/wiki/Outsourcing> nicht die
    357 Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen an
    358 Drittunternehmen, sondern die Auslagerung auf die
    359 Intelligenz und die Arbeitskraft einer Masse von
    360 Freizeitarbeitern im Internet. Eine Schar von Experten und
    361 Dienstleistern generiert Inhalte, löst diverse Aufgaben und
    362 Probleme oder ist an Forschungs- und Entwicklungsprojekten
    363 beteiligt (vgl. Schwarmintelligenz
    364 <http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarmintelligenz>).
    365 Crowdsourcing ist damit ein Prinzip der Arbeitsteilung, die
    366 mit ihren positiven Spezialisierungseffekten zu den
    367 Grundprinzipien des Wirtschaftens zählt.“
    368
    369 Crowdsourcing wird von Aktiven im Netz getrieben und
    370 erfährt breite gesellschaftliche Akzeptanz. Als
    371 „Auslagerung von Unternehmensaufgaben auf die Arbeitskraft
    372 einer Masse von Freizeitarbeitern“ hat es allerdings
    373 gleichzeitig zur Vernichtung langjährig etablierter
    374 Geschäftsmodelle und fester Arbeitsverhältnisse in
    375 Unternehmen geführt. Prominenteste Beispiele für auf
    376 Crowdsourcing basierende Angebote, die in direkter
    377 Konkurrenz zu gewerblichen Angeboten stehen, sind Wikipedia
    378 und OpenStreetMaps. Parallel zum Aufstieg von Wikipedia
    379 wurden Neuauflagen etablierter Enzyklopädien wie Brockhaus
    380 (2005/2006) und Encylopaedia Britannica (2010) eingestellt
    381 sowie die entsprechenden Belegschaften reduziert.
    382 Inzwischen beginnen Unternehmen dem Beispiel der
    383 Netzgemeinde zu folgen und setzen sich aktiv mit der
    384 Fragestellung auseinander, wie sich Crowdsourcing-Ansätze
    385 kommerziell verwerten lassen.
    386
    387 --->
    388 Siehe 3.1 Einleitung, Teil 2
    389
    390
    391
    392