Papier: 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft

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1 Zum Gliederungspunkt 2.2.1 Auswirkungen der Digitalisierung
2 auf die Wirtschaft: Dieser Gliederungspunkt umfasst im
3 Arbeitsprogramm mehrere Spiegelstriche mit verschiedenen
4 Aspekten. Zu den Punkten Digitalisierung als
5 Produktionsfaktor, Rolle von Algorithmen etwa beim
6 Börsenhandel, bei den Empfehlungen von Handelsportalen, in
7 der Kreativwirtschaft (Contentfarmen) hat sich die
8 Projektgruppe in ihrer Sitzung vom 21.11.2011 auf den
9 folgenden Text verständigt:
10
11
12 Recommendation Algorithmen, Contentfarmen, Börse
13 Eine der wichtigsten Entwicklungen des digitalen Wandels
14 besteht in dem Bedeutungszuwachs von Algorithmen. In immer
15 mehr Lebensbereichen nehmen Computer Menschen Entscheidungen
16 ab. Dies hat nicht nur die Konsequenz, dass immer mehr
17 Menschen einen Kontrollverlust beklagen (oder begrüßen,
18 jedenfalls aber empfinden), sondern auch die Folgen für die
19 Wirtschaft sind beträchtlich. Es entstehen neue Märkte, die
20 sich von jenen der analogen Welt deutlich unterscheiden. Wie
21 werden diese Märkte reguliert? Sind traditionelle
22 Mechanismen der Wettbewerbsregulierung auf die neuen
23 information economies noch anwendbar? In welchem Verhältnis
24 stehen sie zur aufs Internet nur schwer übertragbaren
25 bisherigen Medienregulierung? Wenn das Funktionieren ganzer
26 Märkte in immer größerem Maße von privatwirtschaftlich
27 kontrollierten Algorithmen abhängig ist, wie kann eine
28 sinnvolle Marktregulierung dann überhaupt aussehen?
29
30 Der Einfluss von Algorithmen auf das Marktgeschehen als
31 Ganzes wird leider noch oft unterschätzt. In dem
32 nachfolgenden Kapitel soll deshalb vertiefend auf drei
33 Bereiche eingegangen werden, in denen dieser Einfluss
34 besonders plastisch nachgewiesen werden kann. Es geht dabei
35 um die Empfehlungen von Handels- und Contentportalen, die
36 Inhalte sogenannter Contentfarmen sowie den automatisierten
37 Hochgeschwindigkeitshandel der Aktienmärkte.
38
39
40 1. Recommendation Algorithmen
41
42 Bekanntlich arbeiten Online-Shops wie Amazon oder
43 Contentportale wie YouTube mit automatischen Empfehlungen.
44 Kunden bzw. Nutzern sollen Produkte bzw. Inhalte empfohlen
45 werden, für die sie sich mutmaßlich interessieren. So soll
46 ihr Interesse angeregt werden, was zu weiteren Käufen oder
47 zu einem längeren Verbleib auf der Angebotsseite führen
48 kann.
49 Solche Empfehlungen werden seit Mitte der 90er Jahre von
50 Recommendation Algorithms erstellt, welche mittlerweile sehr
51 komplex sind. Dennoch lassen sich zwei Grundfunktionen
52 unterscheiden, nämlich collaborative filtering und content
53 filtering. Beim collaborative filtering werden zur
54 Erstellung der Empfehlungen user mit anderen usern
55 verglichen: user, die Buch A kauften, kauften auch Buch B.
56 Beim content filtering wird content mit anderem content
57 verglichen: Sie haben Fußballvideo A gesehen, vielleicht
58 interessiert Sie auch Fußballvideo B.
59
60 Collaborative filtering kann mit zunehmender Zahl der Nutzer
61 sehr rechenaufwändig werden und somit zu einer nicht mehr
62 akzeptablen Verlangsamung des Dienstes führen. Man kann dann
63 zu komplexitätsreduzierenden Mitteln greifen und etwa die
64 Kunden anhand von Cluster Models in verschiedene Segmente
65 einteilen, was offline geschehen kann. Wie jede
66 Komplexitätsreduktion bleibt allerdings auch diese nicht
67 frei von Qualitätsverlusten, die Empfehlungen werden also
68 schlechter.
69
70 Amazon hat darauf mit seinem Item-to-item-Algorithmus eine
71 Antwort gefunden und sie sich bereits 2001 patentieren
72 lassen [FN:
73 http://www.google.com/patents/about/6266649_Collaborative_re
74 commendations_us.html?id=NIAIAAAAEBAJ]: „The service
75 generates the recommendations using a previously-generated
76 table which maps items to lists of ‚similar‘ items. The
77 similarities reflected by the table are based on the
78 collective interests of the community of users.” Ein großer
79 Vorteil des Systems besteht darin, dass die aufwändigste
80 Rechenoperation, die Erstellung der Tabellen, offline
81 vorgenommen werden kann. Sie setzt allerdings voraus, dass
82 der zu vergleichende Content möglichst vollständig mit
83 sauberen Metadaten versehen ist.
84
85 Dies ist beispielsweise bei YouTube oft nicht der Fall, da
86 es sich hier zu großen Teilen um ugc handelt. YouTube setzte
87 deshalb zunächst auf ein collaborative-filtering-System, das
88 die Ingenieure 2008 in einem Whitepaper beschrieben haben.
89 [FN: http://research.google.com/pubs/archive/34407.pdf ] Der
90 als „adsorption algorithm“ beschriebene Mechanismus ist
91 graphbasiert und bildet das Verhältnis von usern zu Videos
92 etwa so ab wie ein U-Bahn-Plan. Die Haltestellen der
93 Knotenpunkte, an denen sich verschiedene Linien treffen,
94 wären in diesem Bild die Videos, während die Linien selbst
95 das Kundenverhalten abbilden. So wie Haltestellen in der
96 U-Bahn unterschiedlich weit voneinander entfernt liegen,
97 liegen einige Videos dem jeweiligen user sehr nahe, andere
98 weniger. „Empfohlen“ werden sowohl nahe als auch entfernte.
99 Welche der weit entfernten und somit vom Standpunkt des
100 Betrachter aus schlecht vernetzten Videos dem Nutzer
101 vorgeschlagen werden, wird mit Hilfe einer Zufallsoperation
102 errechnet, einem sogenannten Random Walk. Der Algorithmus
103 wandert gewissermaßen das Liniennetz entlang und hält an
104 einem zufälligen Knotenpunkt an. Schaut der user das
105 empfohlene Video daraufhin tatsächlich an, entsteht eine
106 direkte Beziehung, die es vorher nicht gab, und das
107 entsprechende usergenerierte Signal kann wiederum für
108 zukünftige Empfehlungen ausgewertet werden.
109
110 Man mag hier eine gewisse Verwandtschaft zum in der Google
111 Suche verwendeten PageRank erkennen, welcher ebenfalls auf
112 einem Netz von Verweisen basiert. In der Google-Suche
113 erscheinen bekanntlich häufig verlinkte Seiten besonders
114 weit oben in der Trefferliste. Allerdings ist YouTube keine
115 Suchmaschine und wird auch ganz anders genutzt. Während eine
116 Suchmaschine zum gezielten Auffinden von Informationen dient
117 , besuchen Nutzer Videoportale häufig, um unterhalten zu
118 werden. Dabei kann es eher schädlich sein, wenn das
119 „Programm“ sich von einem Video zum nächsten immer ähnelt
120 und nie etwas Überraschendes passiert. Tatsächlich suchen
121 user bei YouTube unspezifisch nach „Lustigen Videos“ [FN:
122 http://www.nytimes.com/2009/12/31/technology/internet/31tube
123 .html ], und im Jahr 2010 basierten 60% aller von der
124 Homepage aus getätigten Klicks auf automatischen
125 Empfehlungen. [FN:
126 http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770]
127
128 Angesichts dieser Erkenntnisse hat YouTube versucht, besser
129 auf einen „unarticulated want“ seiner Nutzer zu reagieren
130 und „to keep users entertained and engaged“. Die Zitate
131 entstammen einem Whitepaper von 2010, als die Entwickler auf
132 einer Konferenz ihren neuen Algorithmus vorgestellt haben.
133 [FN: http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770] Das YouTube
134 Recommendation System basiert demzufolge im Grundsatz nicht
135 mehr auf collaborative filtering, sondern auf einer
136 Kombination von content filtering mit direkten
137 user-Signalen. Es handelt sich also um eine Kombination aus
138 co-visitation counts (welche Videos werden häufig „zusammen“
139 angesehen, also nacheinander vom selben user angeklickt?)
140 mit Input-Daten (user-Bewertungen, Likes, Kanal-Abonnements
141 etc.) „Overall we find that co-visitation based
142 recommendation performs at 207% of the baseline Most View
143 page“, resümieren die Entwickler. Tatsächlich ist 2010 auch
144 eine wissenschaftliche Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass
145 die Bereicherung des Adsorption-Algorithmus mit
146 content-basierten Vergleichen zu einer höheren Qualität der
147 automatischen Empfehlungen führen würde. Leider stand dem
148 Autor jedoch der Datenpool von YouTube nicht zur
149 Verfügung.[FN:
150 http://www.springerlink.com/content/uj162u3549218753/]
151
152 Welche gesellschaftliche Relevanz haben
153 Empfehlungsalgorithmen? Während Targeting bei Online-Shops
154 schlimmstenfalls zu einer Belästigung der user führen kann,
155 stellt sich die Sache bei Content-Portalen anders dar. Dass
156 diese in der Regel nicht redaktionell betreut werden, wird
157 bisweilen als Befreiung von der Bevormundung durch
158 Redakteure und Content-Manager gesehen, als Ermächtigung der
159 user/produser. Während die Welt der Massenmedien eine
160 hierarchisch kontrollierte gewesen sei, habe online jeder
161 die Möglichkeit, eigenen Content zu publizieren und dafür
162 Aufmerksamkeit zu gewinnen. Im Bereich der Unterhaltung
163 entspricht dem der Glaube, es könne heutzutage jeder ein
164 Publikum finden. Obwohl indes der digitale Wandel in diesem
165 Sinne unbestreitbar Chancen eröffnet hat, wäre es naiv, den
166 Einfluss der Algorithmen auf die Auswahl des wahrgenommenen
167 Contents zu unterschätzen.
168
169 Offenbar stellen sich Fragen der Chancengleichheit. Wie
170 reagieren Empfehlungsalgorithmen, wenn ihnen nicht genügend
171 Daten zur Verfügung stehen, beispielsweise weil es sich um
172 einen neuen user handelt? Die Antwort verblüfft wenig: Sie
173 empfehlen ein Potpourri aus besonders populärem Content.
174 Populärer Content hat also durch diese Algorithmen die
175 Chance, noch populärer zu werden, während unpopulärer
176 Content es schwerer hat, sich durchzusetzen. Der Effekt kann
177 zusätzlich verstärkt werden. So hat Steven Wittens mit
178 empirischen Tests, rückgreifend auf das Application
179 Programming Interface von YouTube, herausgefunden, dass das
180 Portal zwar bisweilen unpopulären Content als „nächstes
181 Video“ empfiehlt, wenn zuvor ein besonders populärer Content
182 angeboten wurde, jedoch so gut wie nie umgekehrt. [FN:
183 http://www.strutta.com/blog/blog/six-degrees-of-youtube]
184 Folglich haben schon von vornherein nicht alle Videos
185 dieselbe Chance gesehen zu werden, woraus folgt, dass auch
186 nicht alle dieselbe Chance haben, bewertet oder empfohlen zu
187 werden.
188
189 Offenbar verstärkt die Technik, die von solchen Portalen
190 eingesetzt wird, im kulturellen Leben einen Stareffekt: Wer
191 schon viel Aufmerksamkeit bekommt, bekommt durch die Portale
192 zusätzliche Unterstützung. Wer wenig Publikum hat, wird
193 zusätzlich ausgeblendet. Entsprechend ist es kein Zufall,
194 dass die meisten der sogenannten „YouTube-Stars“, die in
195 letzter Zeit im Musikbereich von sich reden gemacht haben,
196 zunächst mit Coverversionen bekannter Hits Aufmerksamkeit
197 erregten. Dass user aus Neugier eher auf eine Coverversion
198 eines schon bekannten Musiktitels klicken als auf ein
199 unbekanntes Original, spielt dabei sicher eine Rolle. Der
200 eigentliche Grund ist jedoch, dass der
201 Empfehlungsalgorithmus, der für einen hohen Anteil der
202 Aufmerksamkeit verantwortlich ist, grundsätzlich solchen
203 Content bevorzugt, der sich an bereits existierenden und
204 möglichst populären Content anschließt. Umgekehrt
205 ausgedrückt: Originalität, Neuigkeit wird von
206 Empfehlungsalgorithmen abgestraft.
207
208 Was ein rein technischer Effekt ist, könnte, so man YouTube
209 als marktbeherrschend ansieht, ein wettbewerbsrechtliches
210 Problem darstellen. Im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung
211 entsprechender Portale für das kulturelle Leben und die
212 öffentliche Meinungsbildung stellt es zudem ein
213 Transparenzproblem dar. Für viele Nutzer geht von
214 Contentportalen, die nicht redaktionell betreut werden, noch
215 immer die Suggestion aus, es handele sich um einen
216 ungefilterten Bereich der Öffentlichkeit. Dem ist nicht so.
217 Welche Bewertungen oder Tags beispielsweise zu einem
218 Herabsetzen des Contents im Ranking der Empfehlungen führen,
219 wissen wir genauso wenig, wie wir die Kriterien kennen, nach
220 denen Suchmaschinen ihre Ergebnislisten filtern.
221
222 Das Phänomen der YouTube-Stars mag man für genauso
223 irrelevant halten wie die zielgerichtete Werbung der
224 Online-Shops. Es ist jedoch ohne Weiteres denkbar,
225 recommendation algorithms auch bei Nachrichtenseiten
226 einzusetzen. Der user würde dann stets solche Nachrichten zu
227 sehen bekommen, die jenen ähneln, für die er sich bei
228 früheren Besuchen der entsprechenden Seite interessiert hat.
229 Diese Perspektive hat Eli Pariser als Filter Bubble
230 [http://www.thefilterbubble.com/] beschrieben. Dass sie
231 eintreffen wird, ist nicht unwahrscheinlich: Während die
232 Auflagen von Zeitungen zunehmend sinken, werden Portale wie
233 YouTube oder Google News zunehmend zu den wichtigsten
234 Informationsquellen. Anders als in der traditionellen
235 Medienlandschaft gibt es jedoch keinen Presserat, der über
236 sie wacht. Ihre Algorithmen bleiben geheim, genießen sogar
237 patentrechtlichen Schutz.
238
239 Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die
240 klassischen Mechanismen wirtschaftlicher Regulierung noch
241 ausreichen, inwiefern also die klassische
242 wettbewerbsrechtliche Regulierung im Hinblick auf
243 Content-Empfehlungen noch die Funktion erfüllt, eine
244 gleichberechtigte Marktteilnahme aller Konkurrenten zu
245 garantieren. Monopolistische Tendenzen oder unfaires,
246 wettbewerbsfeindliches Marktverhalten werden in der Regel
247 nur adressiert, wenn sie erkannt und nachgewiesen werden
248 können. Bei Contentportalen, die mit Empfehlungsalgorithmen
249 arbeiten, wird aber die Bevorzugung bestimmter
250 Marktteilnehmer, die grundsätzlich mit einer Benachteiligung
251 anderer einhergeht, schwer nachzuweisen sein, da die
252 betreffenden Unternehmen die genaue Funktionsweise ihrer
253 Algorithmen nicht offenlegen. Auch eine Auswirkung auf die
254 Preise, die meist der Hauptgrund für ein
255 wettbewerbssicherndes Eingreifen des Staates ist, wird in
256 diesem Fall kaum je nachzuweisen sein. Wie aber soll eine
257 Wettbewerbsregulierung aussehen, die den Markt, den sie
258 regulieren soll, nicht kennt, weil er auf einer privaten
259 Plattform stattfindet, deren Architektur nicht offengelegt
260 wird, ja gar als Geschäftsgeheimnis des proprietären
261 Anbieters gilt? Hier stellt sich ganz grundsätzlich die
262 Frage, ob die Mechanismen der Wettbewerbsregulierung in der
263 digitalen Welt noch so funktionieren können wie auf den
264 alten Märkten.
265
266
267
268 Bitte beachten Sie auch
269 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft -
270 Teil 2 (Contentfarmen) und
271 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft -
272 Teil 3 (Börse)

Der Text verglichen mit der Originalversion

1 Zum Gliederungspunkt 2.2.1 Auswirkungen der Digitalisierung
2 auf die Wirtschaft: Dieser Gliederungspunkt umfasst im
3 Arbeitsprogramm mehrere Spiegelstriche mit verschiedenen
4 Aspekten. Zu den Punkten Digitalisierung als
5 Produktionsfaktor, Rolle von Algorithmen etwa beim
6 Börsenhandel, bei den Empfehlungen von Handelsportalen, in
7 der Kreativwirtschaft (Contentfarmen) hat sich die
8 Projektgruppe in ihrer Sitzung vom 21.11.2011 auf den
9 folgenden Text verständigt:
10
11
12 Recommendation Algorithmen, Contentfarmen, Börse
13 Eine der wichtigsten Entwicklungen des digitalen Wandels
14 besteht in dem Bedeutungszuwachs von Algorithmen. In immer
15 mehr Lebensbereichen nehmen Computer Menschen Entscheidungen
16 ab. Dies hat nicht nur die Konsequenz, dass immer mehr
17 Menschen einen Kontrollverlust beklagen (oder begrüßen,
18 jedenfalls aber empfinden), sondern auch die Folgen für die
19 Wirtschaft sind beträchtlich. Es entstehen neue Märkte, die
20 sich von jenen der analogen Welt deutlich unterscheiden. Wie
21 werden diese Märkte reguliert? Sind traditionelle
22 Mechanismen der Wettbewerbsregulierung auf die neuen
23 information economies noch anwendbar? In welchem Verhältnis
24 stehen sie zur aufs Internet nur schwer übertragbaren
25 bisherigen Medienregulierung? Wenn das Funktionieren ganzer
26 Märkte in immer größerem Maße von privatwirtschaftlich
27 kontrollierten Algorithmen abhängig ist, wie kann eine
28 sinnvolle Marktregulierung dann überhaupt aussehen?
29
30 Der Einfluss von Algorithmen auf das Marktgeschehen als
31 Ganzes wird leider noch oft unterschätzt. In dem
32 nachfolgenden Kapitel soll deshalb vertiefend auf drei
33 Bereiche eingegangen werden, in denen dieser Einfluss
34 besonders plastisch nachgewiesen werden kann. Es geht dabei
35 um die Empfehlungen von Handels- und Contentportalen, die
36 Inhalte sogenannter Contentfarmen sowie den automatisierten
37 Hochgeschwindigkeitshandel der Aktienmärkte.
38
39
40 1. Recommendation Algorithmen
41
42 Bekanntlich arbeiten Online-Shops wie Amazon oder
43 Contentportale wie YouTube mit automatischen Empfehlungen.
44 Kunden bzw. Nutzern sollen Produkte bzw. Inhalte empfohlen
45 werden, für die sie sich mutmaßlich interessieren. So soll
46 ihr Interesse angeregt werden, was zu weiteren Käufen oder
47 zu einem längeren Verbleib auf der Angebotsseite führen
48 kann.
49 Solche Empfehlungen werden seit Mitte der 90er Jahre von
50 Recommendation Algorithms erstellt, welche mittlerweile sehr
51 komplex sind. Dennoch lassen sich zwei Grundfunktionen
52 unterscheiden, nämlich collaborative filtering und content
53 filtering. Beim collaborative filtering werden zur
54 Erstellung der Empfehlungen user mit anderen usern
55 verglichen: user, die Buch A kauften, kauften auch Buch B.
56 Beim content filtering wird content mit anderem content
57 verglichen: Sie haben Fußballvideo A gesehen, vielleicht
58 interessiert Sie auch Fußballvideo B.
59
60 Collaborative filtering kann mit zunehmender Zahl der Nutzer
61 sehr rechenaufwändig werden und somit zu einer nicht mehr
62 akzeptablen Verlangsamung des Dienstes führen. Man kann dann
63 zu komplexitätsreduzierenden Mitteln greifen und etwa die
64 Kunden anhand von Cluster Models in verschiedene Segmente
65 einteilen, was offline geschehen kann. Wie jede
66 Komplexitätsreduktion bleibt allerdings auch diese nicht
67 frei von Qualitätsverlusten, die Empfehlungen werden also
68 schlechter.
69
70 Amazon hat darauf mit seinem Item-to-item-Algorithmus eine
71 Antwort gefunden und sie sich bereits 2001 patentieren
72 lassen [FN:
73 http://www.google.com/patents/about/6266649_Collaborative_re
74 commendations_us.html?id=NIAIAAAAEBAJ]: „The service
75 generates the recommendations using a previously-generated
76 table which maps items to lists of ‚similar‘ items. The
77 similarities reflected by the table are based on the
78 collective interests of the community of users.” Ein großer
79 Vorteil des Systems besteht darin, dass die aufwändigste
80 Rechenoperation, die Erstellung der Tabellen, offline
81 vorgenommen werden kann. Sie setzt allerdings voraus, dass
82 der zu vergleichende Content möglichst vollständig mit
83 sauberen Metadaten versehen ist.
84
85 Dies ist beispielsweise bei YouTube oft nicht der Fall, da
86 es sich hier zu großen Teilen um ugc handelt. YouTube setzte
87 deshalb zunächst auf ein collaborative-filtering-System, das
88 die Ingenieure 2008 in einem Whitepaper beschrieben haben.
89 [FN: http://research.google.com/pubs/archive/34407.pdf ] Der
90 als „adsorption algorithm“ beschriebene Mechanismus ist
91 graphbasiert und bildet das Verhältnis von usern zu Videos
92 etwa so ab wie ein U-Bahn-Plan. Die Haltestellen der
93 Knotenpunkte, an denen sich verschiedene Linien treffen,
94 wären in diesem Bild die Videos, während die Linien selbst
95 das Kundenverhalten abbilden. So wie Haltestellen in der
96 U-Bahn unterschiedlich weit voneinander entfernt liegen,
97 liegen einige Videos dem jeweiligen user sehr nahe, andere
98 weniger. „Empfohlen“ werden sowohl nahe als auch entfernte.
99 Welche der weit entfernten und somit vom Standpunkt des
100 Betrachter aus schlecht vernetzten Videos dem Nutzer
101 vorgeschlagen werden, wird mit Hilfe einer Zufallsoperation
102 errechnet, einem sogenannten Random Walk. Der Algorithmus
103 wandert gewissermaßen das Liniennetz entlang und hält an
104 einem zufälligen Knotenpunkt an. Schaut der user das
105 empfohlene Video daraufhin tatsächlich an, entsteht eine
106 direkte Beziehung, die es vorher nicht gab, und das
107 entsprechende usergenerierte Signal kann wiederum für
108 zukünftige Empfehlungen ausgewertet werden.
109
110 Man mag hier eine gewisse Verwandtschaft zum in der Google
111 Suche verwendeten PageRank erkennen, welcher ebenfalls auf
112 einem Netz von Verweisen basiert. In der Google-Suche
113 erscheinen bekanntlich häufig verlinkte Seiten besonders
114 weit oben in der Trefferliste. Allerdings ist YouTube keine
115 Suchmaschine und wird auch ganz anders genutzt. Während eine
116 Suchmaschine zum gezielten Auffinden von Informationen dient
117 , besuchen Nutzer Videoportale häufig, um unterhalten zu
118 werden. Dabei kann es eher schädlich sein, wenn das
119 „Programm“ sich von einem Video zum nächsten immer ähnelt
120 und nie etwas Überraschendes passiert. Tatsächlich suchen
121 user bei YouTube unspezifisch nach „Lustigen Videos“ [FN:
122 http://www.nytimes.com/2009/12/31/technology/internet/31tube
123 .html ], und im Jahr 2010 basierten 60% aller von der
124 Homepage aus getätigten Klicks auf automatischen
125 Empfehlungen. [FN:
126 http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770]
127
128 Angesichts dieser Erkenntnisse hat YouTube versucht, besser
129 auf einen „unarticulated want“ seiner Nutzer zu reagieren
130 und „to keep users entertained and engaged“. Die Zitate
131 entstammen einem Whitepaper von 2010, als die Entwickler auf
132 einer Konferenz ihren neuen Algorithmus vorgestellt haben.
133 [FN: http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770] Das YouTube
134 Recommendation System basiert demzufolge im Grundsatz nicht
135 mehr auf collaborative filtering, sondern auf einer
136 Kombination von content filtering mit direkten
137 user-Signalen. Es handelt sich also um eine Kombination aus
138 co-visitation counts (welche Videos werden häufig „zusammen“
139 angesehen, also nacheinander vom selben user angeklickt?)
140 mit Input-Daten (user-Bewertungen, Likes, Kanal-Abonnements
141 etc.) „Overall we find that co-visitation based
142 recommendation performs at 207% of the baseline Most View
143 page“, resümieren die Entwickler. Tatsächlich ist 2010 auch
144 eine wissenschaftliche Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass
145 die Bereicherung des Adsorption-Algorithmus mit
146 content-basierten Vergleichen zu einer höheren Qualität der
147 automatischen Empfehlungen führen würde. Leider stand dem
148 Autor jedoch der Datenpool von YouTube nicht zur
149 Verfügung.[FN:
150 http://www.springerlink.com/content/uj162u3549218753/]
151
152 Welche gesellschaftliche Relevanz haben
153 Empfehlungsalgorithmen? Während Targeting bei Online-Shops
154 schlimmstenfalls zu einer Belästigung der user führen kann,
155 stellt sich die Sache bei Content-Portalen anders dar. Dass
156 diese in der Regel nicht redaktionell betreut werden, wird
157 bisweilen als Befreiung von der Bevormundung durch
158 Redakteure und Content-Manager gesehen, als Ermächtigung der
159 user/produser. Während die Welt der Massenmedien eine
160 hierarchisch kontrollierte gewesen sei, habe online jeder
161 die Möglichkeit, eigenen Content zu publizieren und dafür
162 Aufmerksamkeit zu gewinnen. Im Bereich der Unterhaltung
163 entspricht dem der Glaube, es könne heutzutage jeder ein
164 Publikum finden. Obwohl indes der digitale Wandel in diesem
165 Sinne unbestreitbar Chancen eröffnet hat, wäre es naiv, den
166 Einfluss der Algorithmen auf die Auswahl des wahrgenommenen
167 Contents zu unterschätzen.
168
169 Offenbar stellen sich Fragen der Chancengleichheit. Wie
170 reagieren Empfehlungsalgorithmen, wenn ihnen nicht genügend
171 Daten zur Verfügung stehen, beispielsweise weil es sich um
172 einen neuen user handelt? Die Antwort verblüfft wenig: Sie
173 empfehlen ein Potpourri aus besonders populärem Content.
174 Populärer Content hat also durch diese Algorithmen die
175 Chance, noch populärer zu werden, während unpopulärer
176 Content es schwerer hat, sich durchzusetzen. Der Effekt kann
177 zusätzlich verstärkt werden. So hat Steven Wittens mit
178 empirischen Tests, rückgreifend auf das Application
179 Programming Interface von YouTube, herausgefunden, dass das
180 Portal zwar bisweilen unpopulären Content als „nächstes
181 Video“ empfiehlt, wenn zuvor ein besonders populärer Content
182 angeboten wurde, jedoch so gut wie nie umgekehrt. [FN:
183 http://www.strutta.com/blog/blog/six-degrees-of-youtube]
184 Folglich haben schon von vornherein nicht alle Videos
185 dieselbe Chance gesehen zu werden, woraus folgt, dass auch
186 nicht alle dieselbe Chance haben, bewertet oder empfohlen zu
187 werden.
188
189 Offenbar verstärkt die Technik, die von solchen Portalen
190 eingesetzt wird, im kulturellen Leben einen Stareffekt: Wer
191 schon viel Aufmerksamkeit bekommt, bekommt durch die Portale
192 zusätzliche Unterstützung. Wer wenig Publikum hat, wird
193 zusätzlich ausgeblendet. Entsprechend ist es kein Zufall,
194 dass die meisten der sogenannten „YouTube-Stars“, die in
195 letzter Zeit im Musikbereich von sich reden gemacht haben,
196 zunächst mit Coverversionen bekannter Hits Aufmerksamkeit
197 erregten. Dass user aus Neugier eher auf eine Coverversion
198 eines schon bekannten Musiktitels klicken als auf ein
199 unbekanntes Original, spielt dabei sicher eine Rolle. Der
200 eigentliche Grund ist jedoch, dass der
201 Empfehlungsalgorithmus, der für einen hohen Anteil der
202 Aufmerksamkeit verantwortlich ist, grundsätzlich solchen
203 Content bevorzugt, der sich an bereits existierenden und
204 möglichst populären Content anschließt. Umgekehrt
205 ausgedrückt: Originalität, Neuigkeit wird von
206 Empfehlungsalgorithmen abgestraft.
207
208 Was ein rein technischer Effekt ist, könnte, so man YouTube
209 als marktbeherrschend ansieht, ein wettbewerbsrechtliches
210 Problem darstellen. Im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung
211 entsprechender Portale für das kulturelle Leben und die
212 öffentliche Meinungsbildung stellt es zudem ein
213 Transparenzproblem dar. Für viele Nutzer geht von
214 Contentportalen, die nicht redaktionell betreut werden, noch
215 immer die Suggestion aus, es handele sich um einen
216 ungefilterten Bereich der Öffentlichkeit. Dem ist nicht so.
217 Welche Bewertungen oder Tags beispielsweise zu einem
218 Herabsetzen des Contents im Ranking der Empfehlungen führen,
219 wissen wir genauso wenig, wie wir die Kriterien kennen, nach
220 denen Suchmaschinen ihre Ergebnislisten filtern.
221
222 Das Phänomen der YouTube-Stars mag man für genauso
223 irrelevant halten wie die zielgerichtete Werbung der
224 Online-Shops. Es ist jedoch ohne Weiteres denkbar,
225 recommendation algorithms auch bei Nachrichtenseiten
226 einzusetzen. Der user würde dann stets solche Nachrichten zu
227 sehen bekommen, die jenen ähneln, für die er sich bei
228 früheren Besuchen der entsprechenden Seite interessiert hat.
229 Diese Perspektive hat Eli Pariser als Filter Bubble
230 [http://www.thefilterbubble.com/] beschrieben. Dass sie
231 eintreffen wird, ist nicht unwahrscheinlich: Während die
232 Auflagen von Zeitungen zunehmend sinken, werden Portale wie
233 YouTube oder Google News zunehmend zu den wichtigsten
234 Informationsquellen. Anders als in der traditionellen
235 Medienlandschaft gibt es jedoch keinen Presserat, der über
236 sie wacht. Ihre Algorithmen bleiben geheim, genießen sogar
237 patentrechtlichen Schutz.
238
239 Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die
240 klassischen Mechanismen wirtschaftlicher Regulierung noch
241 ausreichen, inwiefern also die klassische
242 wettbewerbsrechtliche Regulierung im Hinblick auf
243 Content-Empfehlungen noch die Funktion erfüllt, eine
244 gleichberechtigte Marktteilnahme aller Konkurrenten zu
245 garantieren. Monopolistische Tendenzen oder unfaires,
246 wettbewerbsfeindliches Marktverhalten werden in der Regel
247 nur adressiert, wenn sie erkannt und nachgewiesen werden
248 können. Bei Contentportalen, die mit Empfehlungsalgorithmen
249 arbeiten, wird aber die Bevorzugung bestimmter
250 Marktteilnehmer, die grundsätzlich mit einer Benachteiligung
251 anderer einhergeht, schwer nachzuweisen sein, da die
252 betreffenden Unternehmen die genaue Funktionsweise ihrer
253 Algorithmen nicht offenlegen. Auch eine Auswirkung auf die
254 Preise, die meist der Hauptgrund für ein
255 wettbewerbssicherndes Eingreifen des Staates ist, wird in
256 diesem Fall kaum je nachzuweisen sein. Wie aber soll eine
257 Wettbewerbsregulierung aussehen, die den Markt, den sie
258 regulieren soll, nicht kennt, weil er auf einer privaten
259 Plattform stattfindet, deren Architektur nicht offengelegt
260 wird, ja gar als Geschäftsgeheimnis des proprietären
261 Anbieters gilt? Hier stellt sich ganz grundsätzlich die
262 Frage, ob die Mechanismen der Wettbewerbsregulierung in der
263 digitalen Welt noch so funktionieren können wie auf den
264 alten Märkten.
265
266
267
268 Bitte beachten Sie auch
269 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft -
270 Teil 2 (Contentfarmen) und
271 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft -
272 Teil 3 (Börse)

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