Papier: 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft
Originalversion
1 | Zum Gliederungspunkt 2.2.1 Auswirkungen der Digitalisierung |
2 | auf die Wirtschaft: Dieser Gliederungspunkt umfasst im |
3 | Arbeitsprogramm mehrere Spiegelstriche mit verschiedenen |
4 | Aspekten. Zu den Punkten Digitalisierung als |
5 | Produktionsfaktor, Rolle von Algorithmen etwa beim |
6 | Börsenhandel, bei den Empfehlungen von Handelsportalen, in |
7 | der Kreativwirtschaft (Contentfarmen) hat sich die |
8 | Projektgruppe in ihrer Sitzung vom 21.11.2011 auf den |
9 | folgenden Text verständigt: |
10 | |
11 | |
12 | Recommendation Algorithmen, Contentfarmen, Börse |
13 | Eine der wichtigsten Entwicklungen des digitalen Wandels |
14 | besteht in dem Bedeutungszuwachs von Algorithmen. In immer |
15 | mehr Lebensbereichen nehmen Computer Menschen Entscheidungen |
16 | ab. Dies hat nicht nur die Konsequenz, dass immer mehr |
17 | Menschen einen Kontrollverlust beklagen (oder begrüßen, |
18 | jedenfalls aber empfinden), sondern auch die Folgen für die |
19 | Wirtschaft sind beträchtlich. Es entstehen neue Märkte, die |
20 | sich von jenen der analogen Welt deutlich unterscheiden. Wie |
21 | werden diese Märkte reguliert? Sind traditionelle |
22 | Mechanismen der Wettbewerbsregulierung auf die neuen |
23 | information economies noch anwendbar? In welchem Verhältnis |
24 | stehen sie zur aufs Internet nur schwer übertragbaren |
25 | bisherigen Medienregulierung? Wenn das Funktionieren ganzer |
26 | Märkte in immer größerem Maße von privatwirtschaftlich |
27 | kontrollierten Algorithmen abhängig ist, wie kann eine |
28 | sinnvolle Marktregulierung dann überhaupt aussehen? |
29 | |
30 | Der Einfluss von Algorithmen auf das Marktgeschehen als |
31 | Ganzes wird leider noch oft unterschätzt. In dem |
32 | nachfolgenden Kapitel soll deshalb vertiefend auf drei |
33 | Bereiche eingegangen werden, in denen dieser Einfluss |
34 | besonders plastisch nachgewiesen werden kann. Es geht dabei |
35 | um die Empfehlungen von Handels- und Contentportalen, die |
36 | Inhalte sogenannter Contentfarmen sowie den automatisierten |
37 | Hochgeschwindigkeitshandel der Aktienmärkte. |
38 | |
39 | |
40 | 1. Recommendation Algorithmen |
41 | |
42 | Bekanntlich arbeiten Online-Shops wie Amazon oder |
43 | Contentportale wie YouTube mit automatischen Empfehlungen. |
44 | Kunden bzw. Nutzern sollen Produkte bzw. Inhalte empfohlen |
45 | werden, für die sie sich mutmaßlich interessieren. So soll |
46 | ihr Interesse angeregt werden, was zu weiteren Käufen oder |
47 | zu einem längeren Verbleib auf der Angebotsseite führen |
48 | kann. |
49 | Solche Empfehlungen werden seit Mitte der 90er Jahre von |
50 | Recommendation Algorithms erstellt, welche mittlerweile sehr |
51 | komplex sind. Dennoch lassen sich zwei Grundfunktionen |
52 | unterscheiden, nämlich collaborative filtering und content |
53 | filtering. Beim collaborative filtering werden zur |
54 | Erstellung der Empfehlungen user mit anderen usern |
55 | verglichen: user, die Buch A kauften, kauften auch Buch B. |
56 | Beim content filtering wird content mit anderem content |
57 | verglichen: Sie haben Fußballvideo A gesehen, vielleicht |
58 | interessiert Sie auch Fußballvideo B. |
59 | |
60 | Collaborative filtering kann mit zunehmender Zahl der Nutzer |
61 | sehr rechenaufwändig werden und somit zu einer nicht mehr |
62 | akzeptablen Verlangsamung des Dienstes führen. Man kann dann |
63 | zu komplexitätsreduzierenden Mitteln greifen und etwa die |
64 | Kunden anhand von Cluster Models in verschiedene Segmente |
65 | einteilen, was offline geschehen kann. Wie jede |
66 | Komplexitätsreduktion bleibt allerdings auch diese nicht |
67 | frei von Qualitätsverlusten, die Empfehlungen werden also |
68 | schlechter. |
69 | |
70 | Amazon hat darauf mit seinem Item-to-item-Algorithmus eine |
71 | Antwort gefunden und sie sich bereits 2001 patentieren |
72 | lassen [FN: |
73 | http://www.google.com/patents/about/6266649_Collaborative_re |
74 | commendations_us.html?id=NIAIAAAAEBAJ]: „The service |
75 | generates the recommendations using a previously-generated |
76 | table which maps items to lists of ‚similar‘ items. The |
77 | similarities reflected by the table are based on the |
78 | collective interests of the community of users.” Ein großer |
79 | Vorteil des Systems besteht darin, dass die aufwändigste |
80 | Rechenoperation, die Erstellung der Tabellen, offline |
81 | vorgenommen werden kann. Sie setzt allerdings voraus, dass |
82 | der zu vergleichende Content möglichst vollständig mit |
83 | sauberen Metadaten versehen ist. |
84 | |
85 | Dies ist beispielsweise bei YouTube oft nicht der Fall, da |
86 | es sich hier zu großen Teilen um ugc handelt. YouTube setzte |
87 | deshalb zunächst auf ein collaborative-filtering-System, das |
88 | die Ingenieure 2008 in einem Whitepaper beschrieben haben. |
89 | [FN: http://research.google.com/pubs/archive/34407.pdf ] Der |
90 | als „adsorption algorithm“ beschriebene Mechanismus ist |
91 | graphbasiert und bildet das Verhältnis von usern zu Videos |
92 | etwa so ab wie ein U-Bahn-Plan. Die Haltestellen der |
93 | Knotenpunkte, an denen sich verschiedene Linien treffen, |
94 | wären in diesem Bild die Videos, während die Linien selbst |
95 | das Kundenverhalten abbilden. So wie Haltestellen in der |
96 | U-Bahn unterschiedlich weit voneinander entfernt liegen, |
97 | liegen einige Videos dem jeweiligen user sehr nahe, andere |
98 | weniger. „Empfohlen“ werden sowohl nahe als auch entfernte. |
99 | Welche der weit entfernten und somit vom Standpunkt des |
100 | Betrachter aus schlecht vernetzten Videos dem Nutzer |
101 | vorgeschlagen werden, wird mit Hilfe einer Zufallsoperation |
102 | errechnet, einem sogenannten Random Walk. Der Algorithmus |
103 | wandert gewissermaßen das Liniennetz entlang und hält an |
104 | einem zufälligen Knotenpunkt an. Schaut der user das |
105 | empfohlene Video daraufhin tatsächlich an, entsteht eine |
106 | direkte Beziehung, die es vorher nicht gab, und das |
107 | entsprechende usergenerierte Signal kann wiederum für |
108 | zukünftige Empfehlungen ausgewertet werden. |
109 | |
110 | Man mag hier eine gewisse Verwandtschaft zum in der Google |
111 | Suche verwendeten PageRank erkennen, welcher ebenfalls auf |
112 | einem Netz von Verweisen basiert. In der Google-Suche |
113 | erscheinen bekanntlich häufig verlinkte Seiten besonders |
114 | weit oben in der Trefferliste. Allerdings ist YouTube keine |
115 | Suchmaschine und wird auch ganz anders genutzt. Während eine |
116 | Suchmaschine zum gezielten Auffinden von Informationen dient |
117 | , besuchen Nutzer Videoportale häufig, um unterhalten zu |
118 | werden. Dabei kann es eher schädlich sein, wenn das |
119 | „Programm“ sich von einem Video zum nächsten immer ähnelt |
120 | und nie etwas Überraschendes passiert. Tatsächlich suchen |
121 | user bei YouTube unspezifisch nach „Lustigen Videos“ [FN: |
122 | http://www.nytimes.com/2009/12/31/technology/internet/31tube |
123 | .html ], und im Jahr 2010 basierten 60% aller von der |
124 | Homepage aus getätigten Klicks auf automatischen |
125 | Empfehlungen. [FN: |
126 | http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770] |
127 | |
128 | Angesichts dieser Erkenntnisse hat YouTube versucht, besser |
129 | auf einen „unarticulated want“ seiner Nutzer zu reagieren |
130 | und „to keep users entertained and engaged“. Die Zitate |
131 | entstammen einem Whitepaper von 2010, als die Entwickler auf |
132 | einer Konferenz ihren neuen Algorithmus vorgestellt haben. |
133 | [FN: http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770] Das YouTube |
134 | Recommendation System basiert demzufolge im Grundsatz nicht |
135 | mehr auf collaborative filtering, sondern auf einer |
136 | Kombination von content filtering mit direkten |
137 | user-Signalen. Es handelt sich also um eine Kombination aus |
138 | co-visitation counts (welche Videos werden häufig „zusammen“ |
139 | angesehen, also nacheinander vom selben user angeklickt?) |
140 | mit Input-Daten (user-Bewertungen, Likes, Kanal-Abonnements |
141 | etc.) „Overall we find that co-visitation based |
142 | recommendation performs at 207% of the baseline Most View |
143 | page“, resümieren die Entwickler. Tatsächlich ist 2010 auch |
144 | eine wissenschaftliche Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass |
145 | die Bereicherung des Adsorption-Algorithmus mit |
146 | content-basierten Vergleichen zu einer höheren Qualität der |
147 | automatischen Empfehlungen führen würde. Leider stand dem |
148 | Autor jedoch der Datenpool von YouTube nicht zur |
149 | Verfügung.[FN: |
150 | http://www.springerlink.com/content/uj162u3549218753/] |
151 | |
152 | Welche gesellschaftliche Relevanz haben |
153 | Empfehlungsalgorithmen? Während Targeting bei Online-Shops |
154 | schlimmstenfalls zu einer Belästigung der user führen kann, |
155 | stellt sich die Sache bei Content-Portalen anders dar. Dass |
156 | diese in der Regel nicht redaktionell betreut werden, wird |
157 | bisweilen als Befreiung von der Bevormundung durch |
158 | Redakteure und Content-Manager gesehen, als Ermächtigung der |
159 | user/produser. Während die Welt der Massenmedien eine |
160 | hierarchisch kontrollierte gewesen sei, habe online jeder |
161 | die Möglichkeit, eigenen Content zu publizieren und dafür |
162 | Aufmerksamkeit zu gewinnen. Im Bereich der Unterhaltung |
163 | entspricht dem der Glaube, es könne heutzutage jeder ein |
164 | Publikum finden. Obwohl indes der digitale Wandel in diesem |
165 | Sinne unbestreitbar Chancen eröffnet hat, wäre es naiv, den |
166 | Einfluss der Algorithmen auf die Auswahl des wahrgenommenen |
167 | Contents zu unterschätzen. |
168 | |
169 | Offenbar stellen sich Fragen der Chancengleichheit. Wie |
170 | reagieren Empfehlungsalgorithmen, wenn ihnen nicht genügend |
171 | Daten zur Verfügung stehen, beispielsweise weil es sich um |
172 | einen neuen user handelt? Die Antwort verblüfft wenig: Sie |
173 | empfehlen ein Potpourri aus besonders populärem Content. |
174 | Populärer Content hat also durch diese Algorithmen die |
175 | Chance, noch populärer zu werden, während unpopulärer |
176 | Content es schwerer hat, sich durchzusetzen. Der Effekt kann |
177 | zusätzlich verstärkt werden. So hat Steven Wittens mit |
178 | empirischen Tests, rückgreifend auf das Application |
179 | Programming Interface von YouTube, herausgefunden, dass das |
180 | Portal zwar bisweilen unpopulären Content als „nächstes |
181 | Video“ empfiehlt, wenn zuvor ein besonders populärer Content |
182 | angeboten wurde, jedoch so gut wie nie umgekehrt. [FN: |
183 | http://www.strutta.com/blog/blog/six-degrees-of-youtube] |
184 | Folglich haben schon von vornherein nicht alle Videos |
185 | dieselbe Chance gesehen zu werden, woraus folgt, dass auch |
186 | nicht alle dieselbe Chance haben, bewertet oder empfohlen zu |
187 | werden. |
188 | |
189 | Offenbar verstärkt die Technik, die von solchen Portalen |
190 | eingesetzt wird, im kulturellen Leben einen Stareffekt: Wer |
191 | schon viel Aufmerksamkeit bekommt, bekommt durch die Portale |
192 | zusätzliche Unterstützung. Wer wenig Publikum hat, wird |
193 | zusätzlich ausgeblendet. Entsprechend ist es kein Zufall, |
194 | dass die meisten der sogenannten „YouTube-Stars“, die in |
195 | letzter Zeit im Musikbereich von sich reden gemacht haben, |
196 | zunächst mit Coverversionen bekannter Hits Aufmerksamkeit |
197 | erregten. Dass user aus Neugier eher auf eine Coverversion |
198 | eines schon bekannten Musiktitels klicken als auf ein |
199 | unbekanntes Original, spielt dabei sicher eine Rolle. Der |
200 | eigentliche Grund ist jedoch, dass der |
201 | Empfehlungsalgorithmus, der für einen hohen Anteil der |
202 | Aufmerksamkeit verantwortlich ist, grundsätzlich solchen |
203 | Content bevorzugt, der sich an bereits existierenden und |
204 | möglichst populären Content anschließt. Umgekehrt |
205 | ausgedrückt: Originalität, Neuigkeit wird von |
206 | Empfehlungsalgorithmen abgestraft. |
207 | |
208 | Was ein rein technischer Effekt ist, könnte, so man YouTube |
209 | als marktbeherrschend ansieht, ein wettbewerbsrechtliches |
210 | Problem darstellen. Im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung |
211 | entsprechender Portale für das kulturelle Leben und die |
212 | öffentliche Meinungsbildung stellt es zudem ein |
213 | Transparenzproblem dar. Für viele Nutzer geht von |
214 | Contentportalen, die nicht redaktionell betreut werden, noch |
215 | immer die Suggestion aus, es handele sich um einen |
216 | ungefilterten Bereich der Öffentlichkeit. Dem ist nicht so. |
217 | Welche Bewertungen oder Tags beispielsweise zu einem |
218 | Herabsetzen des Contents im Ranking der Empfehlungen führen, |
219 | wissen wir genauso wenig, wie wir die Kriterien kennen, nach |
220 | denen Suchmaschinen ihre Ergebnislisten filtern. |
221 | |
222 | Das Phänomen der YouTube-Stars mag man für genauso |
223 | irrelevant halten wie die zielgerichtete Werbung der |
224 | Online-Shops. Es ist jedoch ohne Weiteres denkbar, |
225 | recommendation algorithms auch bei Nachrichtenseiten |
226 | einzusetzen. Der user würde dann stets solche Nachrichten zu |
227 | sehen bekommen, die jenen ähneln, für die er sich bei |
228 | früheren Besuchen der entsprechenden Seite interessiert hat. |
229 | Diese Perspektive hat Eli Pariser als Filter Bubble |
230 | [http://www.thefilterbubble.com/] beschrieben. Dass sie |
231 | eintreffen wird, ist nicht unwahrscheinlich: Während die |
232 | Auflagen von Zeitungen zunehmend sinken, werden Portale wie |
233 | YouTube oder Google News zunehmend zu den wichtigsten |
234 | Informationsquellen. Anders als in der traditionellen |
235 | Medienlandschaft gibt es jedoch keinen Presserat, der über |
236 | sie wacht. Ihre Algorithmen bleiben geheim, genießen sogar |
237 | patentrechtlichen Schutz. |
238 | |
239 | Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die |
240 | klassischen Mechanismen wirtschaftlicher Regulierung noch |
241 | ausreichen, inwiefern also die klassische |
242 | wettbewerbsrechtliche Regulierung im Hinblick auf |
243 | Content-Empfehlungen noch die Funktion erfüllt, eine |
244 | gleichberechtigte Marktteilnahme aller Konkurrenten zu |
245 | garantieren. Monopolistische Tendenzen oder unfaires, |
246 | wettbewerbsfeindliches Marktverhalten werden in der Regel |
247 | nur adressiert, wenn sie erkannt und nachgewiesen werden |
248 | können. Bei Contentportalen, die mit Empfehlungsalgorithmen |
249 | arbeiten, wird aber die Bevorzugung bestimmter |
250 | Marktteilnehmer, die grundsätzlich mit einer Benachteiligung |
251 | anderer einhergeht, schwer nachzuweisen sein, da die |
252 | betreffenden Unternehmen die genaue Funktionsweise ihrer |
253 | Algorithmen nicht offenlegen. Auch eine Auswirkung auf die |
254 | Preise, die meist der Hauptgrund für ein |
255 | wettbewerbssicherndes Eingreifen des Staates ist, wird in |
256 | diesem Fall kaum je nachzuweisen sein. Wie aber soll eine |
257 | Wettbewerbsregulierung aussehen, die den Markt, den sie |
258 | regulieren soll, nicht kennt, weil er auf einer privaten |
259 | Plattform stattfindet, deren Architektur nicht offengelegt |
260 | wird, ja gar als Geschäftsgeheimnis des proprietären |
261 | Anbieters gilt? Hier stellt sich ganz grundsätzlich die |
262 | Frage, ob die Mechanismen der Wettbewerbsregulierung in der |
263 | digitalen Welt noch so funktionieren können wie auf den |
264 | alten Märkten. |
265 | |
266 | |
267 | |
268 | Bitte beachten Sie auch |
269 | 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft - |
270 | Teil 2 (Contentfarmen) und |
271 | 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft - |
272 | Teil 3 (Börse) |
Der Text verglichen mit der Originalversion
1 | Zum Gliederungspunkt 2.2.1 Auswirkungen der Digitalisierung |
2 | auf die Wirtschaft: Dieser Gliederungspunkt umfasst im |
3 | Arbeitsprogramm mehrere Spiegelstriche mit verschiedenen |
4 | Aspekten. Zu den Punkten Digitalisierung als |
5 | Produktionsfaktor, Rolle von Algorithmen etwa beim |
6 | Börsenhandel, bei den Empfehlungen von Handelsportalen, in |
7 | der Kreativwirtschaft (Contentfarmen) hat sich die |
8 | Projektgruppe in ihrer Sitzung vom 21.11.2011 auf den |
9 | folgenden Text verständigt: |
10 | |
11 | |
12 | Recommendation Algorithmen, Contentfarmen, Börse |
13 | Eine der wichtigsten Entwicklungen des digitalen Wandels |
14 | besteht in dem Bedeutungszuwachs von Algorithmen. In immer |
15 | mehr Lebensbereichen nehmen Computer Menschen Entscheidungen |
16 | ab. Dies hat nicht nur die Konsequenz, dass immer mehr |
17 | Menschen einen Kontrollverlust beklagen (oder begrüßen, |
18 | jedenfalls aber empfinden), sondern auch die Folgen für die |
19 | Wirtschaft sind beträchtlich. Es entstehen neue Märkte, die |
20 | sich von jenen der analogen Welt deutlich unterscheiden. Wie |
21 | werden diese Märkte reguliert? Sind traditionelle |
22 | Mechanismen der Wettbewerbsregulierung auf die neuen |
23 | information economies noch anwendbar? In welchem Verhältnis |
24 | stehen sie zur aufs Internet nur schwer übertragbaren |
25 | bisherigen Medienregulierung? Wenn das Funktionieren ganzer |
26 | Märkte in immer größerem Maße von privatwirtschaftlich |
27 | kontrollierten Algorithmen abhängig ist, wie kann eine |
28 | sinnvolle Marktregulierung dann überhaupt aussehen? |
29 | |
30 | Der Einfluss von Algorithmen auf das Marktgeschehen als |
31 | Ganzes wird leider noch oft unterschätzt. In dem |
32 | nachfolgenden Kapitel soll deshalb vertiefend auf drei |
33 | Bereiche eingegangen werden, in denen dieser Einfluss |
34 | besonders plastisch nachgewiesen werden kann. Es geht dabei |
35 | um die Empfehlungen von Handels- und Contentportalen, die |
36 | Inhalte sogenannter Contentfarmen sowie den automatisierten |
37 | Hochgeschwindigkeitshandel der Aktienmärkte. |
38 | |
39 | |
40 | 1. Recommendation Algorithmen |
41 | |
42 | Bekanntlich arbeiten Online-Shops wie Amazon oder |
43 | Contentportale wie YouTube mit automatischen Empfehlungen. |
44 | Kunden bzw. Nutzern sollen Produkte bzw. Inhalte empfohlen |
45 | werden, für die sie sich mutmaßlich interessieren. So soll |
46 | ihr Interesse angeregt werden, was zu weiteren Käufen oder |
47 | zu einem längeren Verbleib auf der Angebotsseite führen |
48 | kann. |
49 | Solche Empfehlungen werden seit Mitte der 90er Jahre von |
50 | Recommendation Algorithms erstellt, welche mittlerweile sehr |
51 | komplex sind. Dennoch lassen sich zwei Grundfunktionen |
52 | unterscheiden, nämlich collaborative filtering und content |
53 | filtering. Beim collaborative filtering werden zur |
54 | Erstellung der Empfehlungen user mit anderen usern |
55 | verglichen: user, die Buch A kauften, kauften auch Buch B. |
56 | Beim content filtering wird content mit anderem content |
57 | verglichen: Sie haben Fußballvideo A gesehen, vielleicht |
58 | interessiert Sie auch Fußballvideo B. |
59 | |
60 | Collaborative filtering kann mit zunehmender Zahl der Nutzer |
61 | sehr rechenaufwändig werden und somit zu einer nicht mehr |
62 | akzeptablen Verlangsamung des Dienstes führen. Man kann dann |
63 | zu komplexitätsreduzierenden Mitteln greifen und etwa die |
64 | Kunden anhand von Cluster Models in verschiedene Segmente |
65 | einteilen, was offline geschehen kann. Wie jede |
66 | Komplexitätsreduktion bleibt allerdings auch diese nicht |
67 | frei von Qualitätsverlusten, die Empfehlungen werden also |
68 | schlechter. |
69 | |
70 | Amazon hat darauf mit seinem Item-to-item-Algorithmus eine |
71 | Antwort gefunden und sie sich bereits 2001 patentieren |
72 | lassen [FN: |
73 | http://www.google.com/patents/about/6266649_Collaborative_re |
74 | commendations_us.html?id=NIAIAAAAEBAJ]: „The service |
75 | generates the recommendations using a previously-generated |
76 | table which maps items to lists of ‚similar‘ items. The |
77 | similarities reflected by the table are based on the |
78 | collective interests of the community of users.” Ein großer |
79 | Vorteil des Systems besteht darin, dass die aufwändigste |
80 | Rechenoperation, die Erstellung der Tabellen, offline |
81 | vorgenommen werden kann. Sie setzt allerdings voraus, dass |
82 | der zu vergleichende Content möglichst vollständig mit |
83 | sauberen Metadaten versehen ist. |
84 | |
85 | Dies ist beispielsweise bei YouTube oft nicht der Fall, da |
86 | es sich hier zu großen Teilen um ugc handelt. YouTube setzte |
87 | deshalb zunächst auf ein collaborative-filtering-System, das |
88 | die Ingenieure 2008 in einem Whitepaper beschrieben haben. |
89 | [FN: http://research.google.com/pubs/archive/34407.pdf ] Der |
90 | als „adsorption algorithm“ beschriebene Mechanismus ist |
91 | graphbasiert und bildet das Verhältnis von usern zu Videos |
92 | etwa so ab wie ein U-Bahn-Plan. Die Haltestellen der |
93 | Knotenpunkte, an denen sich verschiedene Linien treffen, |
94 | wären in diesem Bild die Videos, während die Linien selbst |
95 | das Kundenverhalten abbilden. So wie Haltestellen in der |
96 | U-Bahn unterschiedlich weit voneinander entfernt liegen, |
97 | liegen einige Videos dem jeweiligen user sehr nahe, andere |
98 | weniger. „Empfohlen“ werden sowohl nahe als auch entfernte. |
99 | Welche der weit entfernten und somit vom Standpunkt des |
100 | Betrachter aus schlecht vernetzten Videos dem Nutzer |
101 | vorgeschlagen werden, wird mit Hilfe einer Zufallsoperation |
102 | errechnet, einem sogenannten Random Walk. Der Algorithmus |
103 | wandert gewissermaßen das Liniennetz entlang und hält an |
104 | einem zufälligen Knotenpunkt an. Schaut der user das |
105 | empfohlene Video daraufhin tatsächlich an, entsteht eine |
106 | direkte Beziehung, die es vorher nicht gab, und das |
107 | entsprechende usergenerierte Signal kann wiederum für |
108 | zukünftige Empfehlungen ausgewertet werden. |
109 | |
110 | Man mag hier eine gewisse Verwandtschaft zum in der Google |
111 | Suche verwendeten PageRank erkennen, welcher ebenfalls auf |
112 | einem Netz von Verweisen basiert. In der Google-Suche |
113 | erscheinen bekanntlich häufig verlinkte Seiten besonders |
114 | weit oben in der Trefferliste. Allerdings ist YouTube keine |
115 | Suchmaschine und wird auch ganz anders genutzt. Während eine |
116 | Suchmaschine zum gezielten Auffinden von Informationen dient |
117 | , besuchen Nutzer Videoportale häufig, um unterhalten zu |
118 | werden. Dabei kann es eher schädlich sein, wenn das |
119 | „Programm“ sich von einem Video zum nächsten immer ähnelt |
120 | und nie etwas Überraschendes passiert. Tatsächlich suchen |
121 | user bei YouTube unspezifisch nach „Lustigen Videos“ [FN: |
122 | http://www.nytimes.com/2009/12/31/technology/internet/31tube |
123 | .html ], und im Jahr 2010 basierten 60% aller von der |
124 | Homepage aus getätigten Klicks auf automatischen |
125 | Empfehlungen. [FN: |
126 | http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770] |
127 | |
128 | Angesichts dieser Erkenntnisse hat YouTube versucht, besser |
129 | auf einen „unarticulated want“ seiner Nutzer zu reagieren |
130 | und „to keep users entertained and engaged“. Die Zitate |
131 | entstammen einem Whitepaper von 2010, als die Entwickler auf |
132 | einer Konferenz ihren neuen Algorithmus vorgestellt haben. |
133 | [FN: http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1864770] Das YouTube |
134 | Recommendation System basiert demzufolge im Grundsatz nicht |
135 | mehr auf collaborative filtering, sondern auf einer |
136 | Kombination von content filtering mit direkten |
137 | user-Signalen. Es handelt sich also um eine Kombination aus |
138 | co-visitation counts (welche Videos werden häufig „zusammen“ |
139 | angesehen, also nacheinander vom selben user angeklickt?) |
140 | mit Input-Daten (user-Bewertungen, Likes, Kanal-Abonnements |
141 | etc.) „Overall we find that co-visitation based |
142 | recommendation performs at 207% of the baseline Most View |
143 | page“, resümieren die Entwickler. Tatsächlich ist 2010 auch |
144 | eine wissenschaftliche Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass |
145 | die Bereicherung des Adsorption-Algorithmus mit |
146 | content-basierten Vergleichen zu einer höheren Qualität der |
147 | automatischen Empfehlungen führen würde. Leider stand dem |
148 | Autor jedoch der Datenpool von YouTube nicht zur |
149 | Verfügung.[FN: |
150 | http://www.springerlink.com/content/uj162u3549218753/] |
151 | |
152 | Welche gesellschaftliche Relevanz haben |
153 | Empfehlungsalgorithmen? Während Targeting bei Online-Shops |
154 | schlimmstenfalls zu einer Belästigung der user führen kann, |
155 | stellt sich die Sache bei Content-Portalen anders dar. Dass |
156 | diese in der Regel nicht redaktionell betreut werden, wird |
157 | bisweilen als Befreiung von der Bevormundung durch |
158 | Redakteure und Content-Manager gesehen, als Ermächtigung der |
159 | user/produser. Während die Welt der Massenmedien eine |
160 | hierarchisch kontrollierte gewesen sei, habe online jeder |
161 | die Möglichkeit, eigenen Content zu publizieren und dafür |
162 | Aufmerksamkeit zu gewinnen. Im Bereich der Unterhaltung |
163 | entspricht dem der Glaube, es könne heutzutage jeder ein |
164 | Publikum finden. Obwohl indes der digitale Wandel in diesem |
165 | Sinne unbestreitbar Chancen eröffnet hat, wäre es naiv, den |
166 | Einfluss der Algorithmen auf die Auswahl des wahrgenommenen |
167 | Contents zu unterschätzen. |
168 | |
169 | Offenbar stellen sich Fragen der Chancengleichheit. Wie |
170 | reagieren Empfehlungsalgorithmen, wenn ihnen nicht genügend |
171 | Daten zur Verfügung stehen, beispielsweise weil es sich um |
172 | einen neuen user handelt? Die Antwort verblüfft wenig: Sie |
173 | empfehlen ein Potpourri aus besonders populärem Content. |
174 | Populärer Content hat also durch diese Algorithmen die |
175 | Chance, noch populärer zu werden, während unpopulärer |
176 | Content es schwerer hat, sich durchzusetzen. Der Effekt kann |
177 | zusätzlich verstärkt werden. So hat Steven Wittens mit |
178 | empirischen Tests, rückgreifend auf das Application |
179 | Programming Interface von YouTube, herausgefunden, dass das |
180 | Portal zwar bisweilen unpopulären Content als „nächstes |
181 | Video“ empfiehlt, wenn zuvor ein besonders populärer Content |
182 | angeboten wurde, jedoch so gut wie nie umgekehrt. [FN: |
183 | http://www.strutta.com/blog/blog/six-degrees-of-youtube] |
184 | Folglich haben schon von vornherein nicht alle Videos |
185 | dieselbe Chance gesehen zu werden, woraus folgt, dass auch |
186 | nicht alle dieselbe Chance haben, bewertet oder empfohlen zu |
187 | werden. |
188 | |
189 | Offenbar verstärkt die Technik, die von solchen Portalen |
190 | eingesetzt wird, im kulturellen Leben einen Stareffekt: Wer |
191 | schon viel Aufmerksamkeit bekommt, bekommt durch die Portale |
192 | zusätzliche Unterstützung. Wer wenig Publikum hat, wird |
193 | zusätzlich ausgeblendet. Entsprechend ist es kein Zufall, |
194 | dass die meisten der sogenannten „YouTube-Stars“, die in |
195 | letzter Zeit im Musikbereich von sich reden gemacht haben, |
196 | zunächst mit Coverversionen bekannter Hits Aufmerksamkeit |
197 | erregten. Dass user aus Neugier eher auf eine Coverversion |
198 | eines schon bekannten Musiktitels klicken als auf ein |
199 | unbekanntes Original, spielt dabei sicher eine Rolle. Der |
200 | eigentliche Grund ist jedoch, dass der |
201 | Empfehlungsalgorithmus, der für einen hohen Anteil der |
202 | Aufmerksamkeit verantwortlich ist, grundsätzlich solchen |
203 | Content bevorzugt, der sich an bereits existierenden und |
204 | möglichst populären Content anschließt. Umgekehrt |
205 | ausgedrückt: Originalität, Neuigkeit wird von |
206 | Empfehlungsalgorithmen abgestraft. |
207 | |
208 | Was ein rein technischer Effekt ist, könnte, so man YouTube |
209 | als marktbeherrschend ansieht, ein wettbewerbsrechtliches |
210 | Problem darstellen. Im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung |
211 | entsprechender Portale für das kulturelle Leben und die |
212 | öffentliche Meinungsbildung stellt es zudem ein |
213 | Transparenzproblem dar. Für viele Nutzer geht von |
214 | Contentportalen, die nicht redaktionell betreut werden, noch |
215 | immer die Suggestion aus, es handele sich um einen |
216 | ungefilterten Bereich der Öffentlichkeit. Dem ist nicht so. |
217 | Welche Bewertungen oder Tags beispielsweise zu einem |
218 | Herabsetzen des Contents im Ranking der Empfehlungen führen, |
219 | wissen wir genauso wenig, wie wir die Kriterien kennen, nach |
220 | denen Suchmaschinen ihre Ergebnislisten filtern. |
221 | |
222 | Das Phänomen der YouTube-Stars mag man für genauso |
223 | irrelevant halten wie die zielgerichtete Werbung der |
224 | Online-Shops. Es ist jedoch ohne Weiteres denkbar, |
225 | recommendation algorithms auch bei Nachrichtenseiten |
226 | einzusetzen. Der user würde dann stets solche Nachrichten zu |
227 | sehen bekommen, die jenen ähneln, für die er sich bei |
228 | früheren Besuchen der entsprechenden Seite interessiert hat. |
229 | Diese Perspektive hat Eli Pariser als Filter Bubble |
230 | [http://www.thefilterbubble.com/] beschrieben. Dass sie |
231 | eintreffen wird, ist nicht unwahrscheinlich: Während die |
232 | Auflagen von Zeitungen zunehmend sinken, werden Portale wie |
233 | YouTube oder Google News zunehmend zu den wichtigsten |
234 | Informationsquellen. Anders als in der traditionellen |
235 | Medienlandschaft gibt es jedoch keinen Presserat, der über |
236 | sie wacht. Ihre Algorithmen bleiben geheim, genießen sogar |
237 | patentrechtlichen Schutz. |
238 | |
239 | Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die |
240 | klassischen Mechanismen wirtschaftlicher Regulierung noch |
241 | ausreichen, inwiefern also die klassische |
242 | wettbewerbsrechtliche Regulierung im Hinblick auf |
243 | Content-Empfehlungen noch die Funktion erfüllt, eine |
244 | gleichberechtigte Marktteilnahme aller Konkurrenten zu |
245 | garantieren. Monopolistische Tendenzen oder unfaires, |
246 | wettbewerbsfeindliches Marktverhalten werden in der Regel |
247 | nur adressiert, wenn sie erkannt und nachgewiesen werden |
248 | können. Bei Contentportalen, die mit Empfehlungsalgorithmen |
249 | arbeiten, wird aber die Bevorzugung bestimmter |
250 | Marktteilnehmer, die grundsätzlich mit einer Benachteiligung |
251 | anderer einhergeht, schwer nachzuweisen sein, da die |
252 | betreffenden Unternehmen die genaue Funktionsweise ihrer |
253 | Algorithmen nicht offenlegen. Auch eine Auswirkung auf die |
254 | Preise, die meist der Hauptgrund für ein |
255 | wettbewerbssicherndes Eingreifen des Staates ist, wird in |
256 | diesem Fall kaum je nachzuweisen sein. Wie aber soll eine |
257 | Wettbewerbsregulierung aussehen, die den Markt, den sie |
258 | regulieren soll, nicht kennt, weil er auf einer privaten |
259 | Plattform stattfindet, deren Architektur nicht offengelegt |
260 | wird, ja gar als Geschäftsgeheimnis des proprietären |
261 | Anbieters gilt? Hier stellt sich ganz grundsätzlich die |
262 | Frage, ob die Mechanismen der Wettbewerbsregulierung in der |
263 | digitalen Welt noch so funktionieren können wie auf den |
264 | alten Märkten. |
265 | |
266 | |
267 | |
268 | Bitte beachten Sie auch |
269 | 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft - |
270 | Teil 2 (Contentfarmen) und |
271 | 2.2.1 Auswirkung der Digitalisierung auf die Wirtschaft - |
272 | Teil 3 (Börse) |
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