Beitrag Fraktion DIE LINKE:
- Börse
„Vorstellbar wäre sogar, dass alle Handelsteilnehmer ihre Aufträge von Algorithmen abarbeiten lassen.“ (Frank Gerstenschläger, Vorstand Kassamarkt der Deutsche Börse AG, FAZ 16.04.2009 )
Während der Handel auf den Aktienmärkten traditionellerweise von Händlern betrieben wurde, die Kaufs- und Verkaufsaufträge zunächst per Zuruf, später per Mausklick zur Ausführung brachten, sind mittlerweile große Teile des Börsenhandels automatisiert. Im Rahmen des sogenannten Algo-Tradings, des Hochgeschwindigkeitshandels, sind es Computer, die auf der Grundlage von Algorithmen „Entscheidungen“ über Käufe und Verkäufe von Aktien treffen. Während im Jahr 2007 nur 50% des weltweiten Aktienhandels auf den Hochgeschwindigkeitshandel entfielen , waren es im Jahr 2009 bereits 70%. Für das deutsche Handelssystem Xetra geht man im Jahr 2011 von einem 60%igen Anteil aus. Der hohe Anteil des Algotradings am Gesamthandel wird als eine Gefahr für die Stabilität der Aktienmärkte gesehen. Einer im April 2010 veröffentlichten Befragung des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zufolge vermuten 68% der Finanzmarktexperten einen negativen bis sehr negativen Einfluss auf die Stabilität der Finanzmärkte.
Wie Algotrading funktioniert, haben Sal L. Arnuk und Joseph Saluzzi im Dezember 2008 in einem vielbeachteten Whitepaper erklärt. Institutionelle Anleger, etwa Fonds oder Banken, kaufen oder verkaufen, wenn sie Investitionsentscheidungen treffen, typischerweise nicht nur eine Handvoll Aktien, sondern große Volumina. Händler geben diese Aufträge in ein automatisiertes Handelssystem ein. Um eine Order erfolgreich und möglichst günstig ausführen zu können, wird sie in mehrere kleine Teile aufgesplittet. Solche Orders sind daran zu erkennen, dass sie typischerweise Volumina von 100 oder 500 Stück umfassen. Wenn also ein Handelssystem von einem institutionellen Anleger den Auftrag erhält, eine große Menge Aktien zu einem Preis von bis zu 20,05 Euro zu erwerben, platziert dieses möglicherweise zunächst eine Kauforder für nur 100 Aktien. Gelingt es, diese zu einem Stückpreis von 20,00 Euro zu erwerben, so platziert das System als nächstes eine Kauforder für 500 Stück. Ein Hochgeschwindigkeitsrechner kann hieran automatisch erkennen, dass es sich um einen großen Kaufauftrag eines institutionellen Anlegers handelt, der „scheibchenweise“ ausgeführt werden soll. Bevor der Investor damit fortfahren kann, platziert der Hochgeschwindigkeitsrechner ein Kaufangebot für 100 Stück zum Preis von 20,01 Euro. Da er kurzfristig mehr bietet als der institutionelle Anleger, werden die Verkäufer die Aktien an ihn verkaufen statt an jenen. Geschieht dies, platziert der High-Frequency-Trading-Algorithmus als nächstes ein Verkaufsangebot zum Preis von 20,01 Euro und verkauft die Aktien an den institutionellen Investor weiter. Dieser hat also einen Cent pro Aktie mehr gezahlt als er ohne Zutun des HFT-Algos hätte zahlen müssen, während der HFT-Algorithmus zum gleichen Preis gekauft und verkauft hat. Er hat trotzdem einen Gewinn gemacht, weil der Handelsplatz, der an jeder Transaktion Gebühren verdient, ihm einen Rabatt von beispielsweise ¼ Cent gewährt.
Als besonders problematisch gilt der sogenannte „Raubtieralgorithmus“. Dabei nutzt der HFT-Algo die oben beschriebene Methode, um eine Order als die eines institutionellen Anlegers zu identifizieren. Unter Ausnutzung seines Liquiditätsrabatts treibt er den Preis schrittweise in die Höhe, bis er das vom institutionellen Anleger gesetzte Limit erreicht hat. Zu diesem Preis vollzieht er dann einen Leerverkauf, im Wissen, dass der Kurs mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder fallen wird. Sobald dies geschieht, covert er. Innerhalb weniger Sekunden können auf diese Weise starke Kursschwankungen entstehen.
Eine weitere beachtenswerte Tradingmethode im HFT-Handel ist das Pinging. Es beruht auf der Immediate-or-cancel-Systematik, also der Möglichkeit, Orders zu platzieren und sie, so sie nicht ausgeführt werden, sofort wieder zu annulieren. Die HFT-Algos können dies im Bruchteil von Sekunden vollziehen. So sind sie in der Lage, versteckte Limits institutioneller Anleger auszutesten. Ein institutioneller Anleger ist beispielsweise bereit, Aktien zu einem Preis von bis zu 20,03 Euro zu erwerben, bietet jedoch zunächst nur 20,00 Euro. Der HFT-Algorithmus identifiziert diese Order nach der eingangs beschriebenen Methode als die eines institutionellen Anlegers. Alsdann platziert er eine Verkaufsorder zum Preis von beispielsweise 20,05 Euro. Da kein Verkauf zustande kommt, cancelt er die Order und platziert als nächstes ein Verkaufsangebot von 20,04 Euro. Wiederum erfolgt keine Reaktion. Der Algorithmus geht auf 20,03 Euro, und diesmal wird die Order ausgeführt. Der HFT-Algorithmus kennt nun das Oberlimit des institutionellen Anlegers. Er wendet sich nun wieder dem Markt zu und überbietet dort den institutionellen Anleger um einen Cent, kauft also für 20,01 Euro weitere Aktien auf, um sie dem institutionellen Anleger für 20,03 Euro weiterzuverkaufen.
Sämtliche dieser Tradingmethoden gehen auf Kosten der institutionellen Anleger, da sie darauf basieren, einen Preis künstlich in die Höhe zu treiben, von einem Liquiditätsrabatt zu profitieren und/oder einen Geschwindigkeitsvorsprung auszunutzen. Es handelt sich also um keine nachhaltige Handelsstrategie. Die ursprüngliche Rechtfertigung für das Zulassen solchen Handelns besteht in einem vermeintlichen Liquiditätszuwachs. Eine Steigerung der Handelsvolumina, wie sie durch HFT unzweifelhaft bewirkt werden, wird traditionell als Gewinn an Stabilität verstanden, da man davon ausgeht, dass umso mehr Liquidität am Markt ist, je mehr gehandelt wird. Dies ist jedoch ein Trugschluss. Die für den traditionellen Handel geltende Logik lässt sich auf das algorithmenbasierte HFT gerade nicht übertragen, da die Hochleistungsrechner im Fall von Verlusten dem Markt ihre Liquidität jederzeit wieder entziehen. Statt Märkte zu stabilisieren, führt HFT deshalb zu einer Destabilisierung des Finanzsystems.
Warum das so ist, wird verständlich, wenn man sich die Kettenreaktion ansieht, die im Falle eines nicht auszuschließenden Scheiterns der oben beschriebenen Tradingstrategien entsteht. Bleiben wir beim Beispiel des durch Pinging hochgepushten Kurses. Der letztendliche Erfolg dieser Strategie hängt allein davon ab, ob es dem HFT gelingt, die zum Zwecke des Weiterverkaufs an den institutionellen Anleger erworbenen Aktienvolumina tatsächlich zu verkaufen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der HFT zu viele Aktien erworben hat und nicht alle zum erstrebten Preis absetzen kann. Automatisch wird er sein Verkaufsangebot dann schrittweise reduzieren. Bietet der Markt keine entsprechende Nachfrage, kann es zu schnellen Kursstürzen, jedenfalls aber zu starken Kursschwankungen kommen. Da institutionelle und Kleinanleger auf die von ihnen gehaltenen Positionen in der Regel Stop-Loss-Limits gesetzt haben, kommt es bei Erreichen dieser Verlustbegrenzung zu massenhaften automatischen Verkäufen und damit zu hohen Kapitalverlusten.
Deutlich wurde dies bei dem sogenannten Flash Crash vom 6. Mai 2010, als der Dow Jones innerhalb von 25 Minuten um 1.000 Punkte abstürzte und dabei Kapitalverluste in Höhe von 862 Milliarden Dollar verursachte. Die Aktie von Phillip Morris fiel dabei beispielsweise von 49 auf 17 Dollar, bevor sie sich wieder „erholte“ und bei 47 Dollar stabilisierte. Tausende von Ordern, die mehr als 50% unterhalb des vor dem Kurssturz geltenden Kurses ausgeführt wurden, stornierten die Handelsplätze nachträglich. Bemerkenswert ist, dass die HFT die ihnen zugeschriebene Funktion, im Bedarfsfall Liquidität zur Verfügung zu stellen, nicht erfüllten, sondern im Gegenteil dem Markt zur Begrenzung eigener Verluste Liquidität in hohem Umfang entzogen.
Profiteure des HFT sind neben den entsprechenden Firmen vor allem die Börsenplätze. Für sie zahlt sich aus, dass HFT das Handelsvolumen künstlich in die Höhe treiben, denn die Börse verdient an jeder Order Gebühren. Da jeder Kauforder eines HFT eine Verkaufsorder eines anderen Marktteilnehmers gegenübersteht (und umgekehrt), lohnt es sich für die Börse, den HFT Gebühren zu erlassen und ihnen zudem einen Liquiditätsrabatt zu gewähren, der es ihnen ermöglicht, auch dann noch Gewinne zu machen, wenn sie zum selben Preis verkaufen, wie sie gekauft haben. Manche Börsenbetreiber gewähren bis zu ¼ eines Penny’s pro Aktie Rabatt an Broker-Dealer, wenn diese eine Order platzieren, verdienen aber daran, dass sie dem Gegenpart, der die Order zur Ausführung bringt (also dem jeweiligen Käufer bzw. Verkäufer) eine höhere Transaktionsgebühr in Rechnung stellen. Dieses sogenannte Maker-Taker-Modell ist mittlerweile in Europa ebenso üblich wie in den USA. Außerdem verdienen die Börsen an der Vermietung von sogenannten Co-Location-Spaces. Da der Erfolg des HFT zunehmend von der Geschwindigkeit der Datenübertragung abhängt, haben auf diesem Gebiet tätige Handelsfirmen ein großes Interesse daran, räumlich so nahe wie möglich an den Rechenzentren der Handelsplätze selbst angesiedelt zu sein. Die Rede ist hier von der Latency Arbitrage, also vom Vorteil, den Handelsfirmen allein aufgrund ihrer besseren Datenleitung genießen. Der Latenzvorteil, den die örtliche Nähe mit sich bringt, hat rund um die Börsenplätze fußballfeldgroße Technikclustern entstehen lassen. Die NYSE hat beispielsweise 2009 eine 120 Quadratmeter große Colocation in New Jersey und eine weitere bei London bauen lassen, zu Kosten von 500 Millionen Dollar. Diese Investitionen rentieren sich offenbar aufgrund der Mieteinnahmen, die die HFT-Firmen zu zahlen bereit sind. Die Miete rentiert sich ihrerseits offenbar aufgrund der dadurch erlangten Handelsvorteile.
Nicht zuletzt aber verdienen die Börsen an proprietären Datafeeds, die sie an die Betreiber der Hochgeschwindigkeitsrechner verkaufen. Hier bietet sich ein Vergleich mit sozialen Netzwerken an: So wie Facebook Nutzungsdaten der user sammelt, um sie an Werbetreibende zu verkaufen, sammeln die Handelsplätze Daten ihrer privaten und institutionellen Kunden und verkaufen sie als „Direct Feed“ an die HFT-Firmen. In den USA heißen diese direct feeds etwa BATS PITCH oder TotalView-ITCH, in Deutschland gibt es den AlphaFlash („ultraschnelle Wirtschaftsdaten und Ad-hoc-Nachrichten für Algo-Trading-Applikationen“) , den High Performance Xetra Data Feed („all order book updates on an un-netted basis as soon as they occur“ ) sowie verschiedene andere Angebote. Der Vorteil von direct data feeds besteht darin, Orderdaten und Volumina der Aufträge von institutionellen und Kleinanlegern schon zu kennen, bevor sie auf dem jeweiligen Marktplatz platziert werden, um die eigene Tradingstrategie darauf ausrichten zu können. Ähnlich wie bei Facebook werden bei den gängigen feeds die Daten natürlich in anonymisierter Form verkauft, jedoch so, dass sie von den Hochleistungsrechnern automatisch ausgewertet werden können. So wird es möglich, dass beispielsweise eine Kauforder, die eine Bank für einen ihrer Privatkunden in das Handelssystem eingibt, noch vor der Platzierung am Handelsplatz an einen HFT übermittelt wird, der daraufhin ggf. in der oben beschriebenen Weise den Preis hochtreiben und die Differenz als Gewinn verbuchen kann.
65% der vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung befragten Fachleute halten die bisherige gesetzliche Regulierung des Hochgeschwindigkeitshandels für unzureichend. Wie die obige Beschreibung gezeigt hat, stellen die in der öffentlichen Diskussion besonders präsenten Leerverkäufe nur ein Teilproblem dar, und selbst dieses Teilproblem ist im Wesentlichen ungelöst. So hat beispielsweise der deutsche Gesetzgeber das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen stark beschränkt, nämlich auf deutsche Aktien und Staatstitel der Eurozone sowie Kreditversicherungen auf Staatstitel der Eurozone, die keinen Absicherungszwecken dienen, statt ein umfassendes Verbot solcher Geschäfte zu beschließen.
Handlungsempfehlungen
Um die Wahrscheinlichkeit einer weltweiten Finanzkrise infolge von Algotrading zu reduzieren, sollten vor allem drei Maßnahmen umgesetzt werden: - Steigerung der Transparenz: Die Funktionsweise privatwirtschaftlicher Algorithmen sollte von der Börsenaufsicht kontrolliert und ggf. vom Gesetzgeber reguliert werden, um volkswirtschaftlichen Schaden zu vermeiden. - Abschaffung des Maker-Taker-Modells: Dass HFT-Algorithmen aufgrund von Rabatten zum selben Preis kaufen und verkaufen können und trotzdem Gewinn machen, hat insbesondere bei den meistgehandelten Aktien zu einem Anstieg im Handelsvolumen geführt. Der Eindruck eines gesunden, liquiden Marktes ist jedoch trügerisch und führt an den Börsen zum vermeintlich werterhaltenden Rückzug von institutionelle Anlegern und Privatkunden. - Order Cancellation Fee/Minimum order life: Mehr als 90% aller Order werden vor Ausführung gecancelt. Es sollte entweder für das Annulieren einer Order eine Gebühr erhoben werden, oder es sollte einen „Mindestlebenszeit“ von einer Sekunde für Orders eingeführt werden.