3.3.2 Internationalisierung

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    1 Die digitale Vernetzung hat – im Zusammenwirken mit
    2 weiteren Faktoren wie der Liberalisierung des Welthandels
    3 und der Herausbildung großer regionaler Wirtschaftsblöcke
    4 –in den zurückliegenden Jahren eine enorme Schubkraft für
    5 den weiteren Fortschritt der ökonomischen
    6 Internationalisierung entfaltet, indem sie nicht nur die
    7 zunehmend engere Verflechtung ehemals national
    8 abgeschotteter Märkte forcierte, sondern insbesondere auch
    9 die standortverteilte Organisation arbeitsteiliger
    10 Wertschöpfung im globalen Maßstab ermöglichte. Aufgrund der
    11 Verbesserung und Verbilligung netzbasierter Kommunikations-
    12 und Kooperationstools wurde zum einen die Bedeutung
    13 geografischer Entfernungen als traditionelle Hemmnisse für
    14 großräumige wirtschaftliche Aktivitäten stark relativiert –
    15 ein Trend, für den schlagwortartig die These vom „death of
    16 distance“ [FN: Cairncross, Frances: The death of distance.
    17 How the communication revolution is changing our lives.
    18 1997, Seite folgt] steht. Zum anderen lassen die neuen
    19 digitalen Techniken eine zweite große „Entbündelung“
    20 ökonomischer Prozesse zu [FN: Vgl. Baldwin, Richard:
    21 Globalisation: the great unbundling(s). 2006.]: Hatte
    22 bereits die erste Entbündelung – die räumliche Trennung von
    23 Produktion und Konsumtion, ermöglicht durch eine massive
    24 Senkung der Transportkosten seit dem 19. Jahrhundert – den
    25 weltweiten Handel beflügelt, weil so die Beförderung von
    26 Gütern auch über weite Distanzen wirtschaftlich darstellbar
    27 wurde, so erlaubt die digital gestützte zweite Entbündelung
    28 nun eine Aufspaltung und räumliche Trennung einzelner
    29 Wertschöpfungsstufen voneinander über die Grenzen von
    30 Staaten, Zeitzonen und Kontinenten hinweg.
    31
    32 In den entgrenzten Raum-Zeit-Konstellationen digital
    33 vernetzter Produktion erweitern sich auf diese Weise die
    34 organisatorischen Gestaltungsoptionen von Unternehmen nicht
    35 nur im betrieblichen, regionalen und nationalen Kontext,
    36 sondern im globalen Maßstab: Vor allem dann, „wenn der
    37 Arbeitsgegenstand digitalisierbar ist, werden die
    38 weltweiten Informationsnetze zur Infrastruktur eines neuen,
    39 eigenständigen ‚Raums der Produktion‘“, der „eine
    40 Kooperation in bestimmten Arbeitsprozessen über räumliche
    41 Distanzen und ohne zeitliche Verzögerungen ermöglicht.“
    42 [FN: Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Global verteilte
    43 Kopfarbeit. Offshoring und der Wandel der
    44 Arbeitsbeziehungen. 2011, S. 62.] Die digitale Vernetzung
    45 bildet damit die „Basis einer Globalisierung 2.0“ [FN:
    46 Boes, Andreas/Kämpf, Tobias: Global verteilte Kopfarbeit.
    47 Offshoring und der Wandel der Arbeitsbeziehungen. 2011, S.
    48 59.] und bahnt einer neuen Geografie der Arbeit den Weg,
    49 die vorrangig durch drei Entwicklungen charakterisiert ist:
    50
    51  eine zunehmende internationale Beweglichkeit digital
    52 vernetzter Arbeit,
    53
    54  eine Herausbildung tendenziell globaler
    55 Wettbewerbsverhältnisse auf (Teil-) Arbeitsmärkten und
    56
    57  eine Einbindung von Erwerbstätigen in transnationale
    58 Organisations- und Arbeitszusammenhänge.
    59
    60
    61
    62 Internationale Beweglichkeit digital vernetzter Arbeit
    63
    64 Zum ersten wird digitale Arbeit zunehmend weltweit
    65 beweglich und mit vergleichsweise geringem Aufwand
    66 verlagerbar – das gängige Stichwort lautet hier
    67 „Offshoring“. [FN: Vgl. ausführlich zur Definition des
    68 Begriffs „Offshoring“ u. a. Boes, Andreas/Schwemmle,
    69 Michael: Was ist Offshoring?. 2005, S. 9-12 und OECD:
    70 Offshoring and Employment: Trends and Impacts.2007, S. 15
    71 ff.] Stand dabei zunächst vor allem die Software-Produktion
    72 oder die Wartung von IT-Systemen im Zentrum, so hat sich
    73 die Bandbreite global dislozierter Tätigkeiten mittlerweile
    74 über den IT-Sektor hinaus deutlich vergrößert und umfasst
    75 heute insbesondere eine Vielzahl von „Business Process
    76 Services“ aus Bereichen wie Buchhaltung, Kundenbetreuung,
    77 Reisekostenabrechnung oder Finanzdienstleistungen, aber
    78 auch Arbeiten in Forschung und Entwicklung. Obwohl die
    79 Motive entsprechender Aktivitäten vielfältiger Art sind und
    80 sich etwa auch auf den erleichterten Zugang zu
    81 Auslandsmärkten oder knappen Humanressourcen erstrecken, so
    82 dominiert doch nach wie vor das Ziel, auf diesem Weg
    83 Kostensenkungen zu erreichen. [FN: „In the case of
    84 production of goods and services, the primary motivation
    85 emerging from opinion surveys is to cut costs, but not
    86 labour costs alone.“ OECD: Offshoring and Employment:
    87 Trends and Impacts. 2007, S. 7. Auch eine 2010
    88 durchgeführte Unternehmensbefragung von Steria Mummert und
    89 Consulting in Deutschland kommt zu dem Schluss, dass „nach
    90 wie vor das Ziel, Kosten zu senken, ganz oben (steht)“
    91 (Pütter, Christiane: Offshoring ja, aber bitte auf Deutsch.
    92 2010. Abrufbar unter:
    93 http://www.cio.de/knowledgecenter/outsourcing/2254078 ]
    94 Offshoring wird deshalb vor allem dann zur erwägenswerten
    95 Option für Unternehmen, „wenn ein etablierter
    96 Produktionsstandort in einem westlichen Industrieland
    97 ungünstigere Kostenstrukturen aufweist als etwa ein
    98 alternativer Standort in einem weit entfernten
    99 Schwellenland“. [FN: Schrader, Klaus/Laaser,
    100 Claus-Friedrich: Globalisierung in der Wirtschaftskrise:
    101 Wie sicher sind die Jobs in Deutschland?. 2009, S. 3.]
    102
    103 Die quantitative Dimension der internationalen
    104 „Delokalisierung“ von Arbeit ist – nicht zuletzt aufgrund
    105 von Messproblemen und einer unzulänglichen Datenlage [FN:
    106 Vgl. zu den Problemen der Messung OECD: Offshoring and
    107 Employment: Trends and Impacts. 2007, S. 41ff. Die
    108 unbefriedigende Datenlage dürfte nicht zuletzt auch auf
    109 eine mangelnde Auskunftsbereitschaft der Beteiligten
    110 zurückzuführen sein: So führt „die Suche nach deutschen
    111 Offshoring-Kunden [...] bei den großen indischen
    112 Dienstleistern und bei vielen deutschen Anbietern meist ins
    113 Leere: Die Scheu, offen über Offshoring zu kommunizieren,
    114 ist nach wie vor groß.“ Hoffmann, Daniela: Heimlicher Run
    115 aufs Offshoring. 2011. Abrufbar unter:
    116 http://www.computerwoche.de/management/it-services/2351512
    117 ] – bislang schwer zu taxieren. Marktforschungen von
    118 Technology Business Research (TBR) zufolge weisen etwa in
    119 Deutschland tätige IT-Dienstleister eine durchaus relevante
    120 Offshoring-Quote aus – definiert als „Anteil der Prozesse,
    121 die in Ländern erledigt werden, in denen billigere Löhne
    122 gezahlt werden als auf dem Heimatmarkt“. Sie soll für IBM
    123 bei 51 Prozent, für Accenture bei 44 Prozent, bei Cap
    124 Gemini bei 36 Prozent und bei T-Systems, einer Sparte der
    125 Deutschen Telekom, bei 21 Prozent liegen. [FN: Vgl.
    126 Handelsblatt vom 12. Januar 2012: T-Systems verlagert
    127 Arbeit ins Ausland.
    128 Unter Verweis auf diese im Vergleich niedrige
    129 Offshoring-Quote kündigte T-Systems im Januar 2012 an, „im
    130 Rahmen eines Kostensenkungsplans mehr Arbeit ins Ausland
    131 verlagern“ zu wollen. Handelsblatt, ebd.]
    132
    133 Auf Datennetzen prinzipiell verlagerbar dürften
    134 insbesondere solche Tätigkeiten sein, die einer
    135 OECD-Analyse zufolge [FN: Vgl. OECD: Potential Offshoring
    136 of ICT-intensive using Occupations. 2005, S. 12.]
    137 nachfolgende Kriterien aufweisen:
    138  intensive IT-Nutzung,
    139  telekommunikative Übermittelbarkeit der Arbeitsergebnisse,
    140  hohe Anteile an kodifiziertem Wissen bei niedrigen
    141 Anteilen an implizitem oder Erfahrungswissen,
    142  fehlende beziehungsweise geringe Erfordernis von
    143 Face-to-Face-Kontakten.
    144
    145 Darauf basierend schätzten OECD-Experten den Anteil
    146 potenziell dislozierbarer Jobs in den EU15-Ländern, den
    147 USA, Kanada und Australien für das Jahr 2003 auf annähernd
    148 20 Prozent aller Beschäftigten. [FN: Vgl. OECD: Potential
    149 Offshoring of ICT-intensive using Occupations. 2005, S.
    150 22.] Für Deutschland machen die Ergebnisse einer zu einem
    151 späteren Zeitpunkt durchgeführten Studie des Kieler
    152 Instituts für Weltwirtschaft über die „Offshorability“
    153 hiesiger Arbeitsplätze ein noch größeres Potenzial
    154 deutlich: Nach Maßgabe der Kriterien der
    155 (Nicht-)Ortsgebundenheit und der (Nicht-)Notwendigkeit
    156 eines persönlichen Kundenkontakts bei der jeweils
    157 erforderlichen Leistungserstellung kommt diese zu dem
    158 Schluss, dass insgesamt rund 42 Prozent der Jobs von
    159 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ins Ausland
    160 verlagerbar seien, darin eingeschlossen sind 11 Prozent,
    161 die sogar als „leicht verlagerbar“ zu gelten hätten. [FN:
    162 Vgl. Schrader, Klaus/Laaser, Claus-Friedrich:
    163 Globalisierung in der Wirtschaftskrise: Wie sicher sind die
    164 Jobs in Deutschland?. 2009, S. 8.] Auch wenn diese Daten
    165 nur eine theoretische Größenordnung beschreiben mögen, so
    166 lassen sie doch den erheblichen Spielraum erkennen, über
    167 den Unternehmen hier prinzipiell verfügen könnten.
    168
    169 Einer neueren Prognose der Hackett Group [FN: Vgl. Hackett
    170 Group: New Hackett Research Forecasts Offshoring of 750.000
    171 more Jobs in Finance, IT, other Key Business Services Areas
    172 by 2016. 2012. Abrufbar unter:
    173 http://www.thehackettgroup.com/about/research-alerts-press-r
    174 eleases/2012/03272012-hackett-research-forecasts-offshoring.
    175 jsp] zufolge, die auf der Befragung von 4.700 europäischen
    176 und US-amerikanischen Unternehmen mit einem Jahresumsatz
    177 von über einer Milliarde US-Dollar basierte, werden bis zum
    178 Jahr 2016 – ausgehend von 2001 – insgesamt rund 2,3
    179 Millionen Jobs aus den Bereichen IT,
    180 Finanzdienstleistungen, Beschaffungs- und Personalwesen in
    181 Niedriglohnländer verlagert worden sein. Dies entspreche
    182 einem Anteil von rund einem Drittel der Gesamtbeschäftigung
    183 in diesen Tätigkeitsfeldern. Ab 2014 könne sich der
    184 Offshoring-Trend jedoch verlangsamen und innerhalb von acht
    185 bis zehn Jahren seinen Einfluss als Hauptursache für den
    186 Abbau von Dienstleistungsarbeitsplätzen in den
    187 Industrieländern einbüßen – vor allem deshalb, weil dann
    188 keine verlagerungsgeeigneten Jobs mehr übrig seien.
    189
    190
    191
    192
    193 Globale Wettbewerbsverhältnisse auf (Teil-)Arbeitsmärkten
    194
    195 Zum zweiten entstehen im Zuge der digitalen Transformation
    196 tendenziell globale Wettbewerbsverhältnisse auf
    197 (Teil-)Arbeitsmärkten – und dies sowohl nachfrage- wie
    198 angebotsseitig: Ist die Option der Verlagerbarkeit von
    199 Tätigkeiten real gegeben, so wird das hierfür jeweils
    200 verfügbare Arbeitskräftepotenzial größer und „im
    201 ‚entfernungslosen’ Raum informationstechnologisch
    202 herstellbarer Nähe konkurrieren von nun an potenziell alle
    203 mit allen Orten der Welt um [...] entsprechende
    204 Arbeitsplätze“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird Demokratie im
    205 Zeitalter der Globalisierung möglich? Eine Einleitung.
    206 1998, S. 21.
    207 ]. Da dieser Wettbewerb im weltweiten Maßstab noch immer
    208 von zum Teil ausgeprägten Asymmetrien geprägt ist – etwa
    209 was Lohnniveau, arbeitsrechtliche Normen oder
    210 gewerkschaftliche Organisationsmacht anbetrifft –, können
    211 die in den westlichen Industrieländern erreichten Standards
    212 auf diesem Weg unter erheblichen Druck geraten. Die
    213 Erweiterung des Standortrepertoires der
    214 Unternehmensleitungen verschafft diesen zusätzliche
    215 „Exit-Optionen“ und verbessert damit deren
    216 Verhandlungsposition, da ihre „transnationale Entzugsmacht
    217 [...] der Organisationsmacht von Staaten und Gewerkschaften
    218 überlegen (ist), weil sie nicht mehr, wie diese,
    219 territorial gebunden ist“ [FN: Beck, Ulrich: Wie wird
    220 Demokratie im Zeitalter der Globalisierung möglich? Eine
    221 Einleitung. 1998, S. 18.
    222 ]. Auch im relativ hoch entwickelten deutschen
    223 Mitbestimmungssystem verfügen betriebliche
    224 Interessenvertretungen bei Konflikten um die Verlagerung
    225 von Arbeitsplätzen gegenwärtig nur über sehr begrenzte
    226 Einflussmöglichkeiten, mit denen sie letztlich „weder den
    227 Übergang des Betriebes noch den Verlust des Arbeitsplatzes
    228 verhindern, sondern allenfalls nachteilige Folgen für den
    229 Arbeitnehmer abschwächen“ können [FN: Pesch, Benjamin:
    230 Offshoring – Welche arbeitsrechtlichen Rechtsfolgen hat ein
    231 grenzüberschreitender Betriebsübergang?. 2012, S. 121.].
    232
    233 Arbeitgeber wissen weltweit von diesem strategischen
    234 Vorteil Gebrauch zu machen: Einer Einschätzung des bei der
    235 OECD angesiedelten Trade Union Advisory Committee zufolge
    236 ist der Rückgriff auf die Exit-Drohung in Verhandlungen und
    237 Konfliktsituationen international längst zum gängigen
    238 unternehmerischen Druckmittel geworden. [FN: „The threat of
    239 relocation to an offshore site is now the standard ploy in
    240 negotiations or in anti-union campaigns [...]” TUAC: Trade,
    241 Offshoring of Jobs and Structural Adjustment – The Need for
    242 a Policy Response. 2004, S. 3.] Ob diese Karte letztlich
    243 real ausgespielt wird, ist dabei oft noch nicht einmal von
    244 ausschlaggebender Bedeutung. Häufig zeitigt allein schon
    245 die bloße „Wirklichkeit der Möglichkeit“ [FN: Beck, Ulrich:
    246 Wie wird Demokratie im Zeitalter der Globalisierung
    247 möglich? Eine Einleitung. 1998, S. 23.] von
    248 Jobverlagerungen reale Effekte, indem sie „mäßigend“ auf
    249 Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften wirkt. Auf
    250 diesen Tatbestand und seine Konsequenzen hat u. a. eine von
    251 der Deutschen Bischofskonferenz beauftragte
    252 Wissenschaftlergruppe nachdrücklich aufmerksam gemacht:
    253 „Neben den positiven und negativen Effekten auf die Zahl
    254 der Arbeitsplätze ist davon auszugehen, dass sich das
    255 Offshoring – insbesondere die Drohung mit ihm – auch auf
    256 die Arbeitsbedingungen in den Industrieländern auswirkt.
    257 Die Option, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, stärkt
    258 offensichtlich die Position der Unternehmensführungen in
    259 ihren Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern der
    260 bereits bestehenden Büros und Betriebsstätten ganz
    261 erheblich. Letztere sehen sich durch die Offshoring-Pläne
    262 der Vorstände immer wieder vor die Wahl zwischen zwei Übeln
    263 gestellt: zwischen dem Übel des Verlustes vieler
    264 Arbeitsplätze und dem Übel, Verschlechterungen bei den
    265 Arbeitsbedingungen, insbesondere Lohnkürzungen und
    266 Arbeitszeitverlängerungen hinzunehmen. Selbst dann, wenn
    267 ein Industrieland vermutlich bisher kaum Arbeitsplätze
    268 durch Verlagerungen in Entwicklungs- oder
    269 Transformationsländern verloren hat, bedeutet dies also
    270 nicht, dass das Offshoring-Phänomen die wirtschaftliche und
    271 soziale Entwicklung dieses Industrielandes nicht stark
    272 beeinflusst hätte.“ [FN: Wissenschaftliche Arbeitsgruppe
    273 für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz
    274 (Hrsg.): Verlagerung von Arbeitsplätzen –
    275 Entwicklungschancen und Menschenwürde. Sozialethische
    276 Überlegungen. 2008, S. 40.]
    277
    278
    279
    280
    281 Transnationale Organisations- und Arbeitszusammenhänge
    282
    283 Ein dritter, sich auf der Basis digitaler Vernetzung
    284 herausbildender Veränderungstrend ist die verstärkte
    285 Einbindung von Erwerbstätigen in grenzüberschreitende
    286 Wertschöpfungsverbünde und transnationale Organisations-
    287 und Arbeitszusammenhänge. Als besonders avanciert und
    288 prominent kann hier vor allem die globale
    289 Softwareentwicklung durch weltweit verteilte Teams gelten.
    290 Weitere Erscheinungsformen sind Kooperationen zwischen
    291 standortverteilten Funktionseinheiten von Konzernen, die
    292 etwa ihre Buchhaltung oder andere „shared services“ im
    293 Ausland angesiedelt haben. Solche Konstellationen verbinden
    294 sich nicht nur mit koordinativen Herausforderungen für das
    295 jeweilige Management, sondern auch mit neuen
    296 Problemstellungen für die betroffenen Beschäftigten, die
    297 vor allem deren Qualifikation, Arbeitszeiten und
    298 arbeitsrechtliche Situation berühren:
    299
    300  Qualifikation: Mit der Arbeit in globalen Bezügen
    301 verändern sich grundlegende Anforderungen an die
    302 beruflichen Kompetenzen, die sich primär auf häufig neu zu
    303 erwerbende sprachliche, interkulturelle und technische
    304 Fähigkeiten beziehen. Es geht dabei aber auch im weiteren
    305 Sinne „um eine echte strategische Neueinstellung: die
    306 Mitarbeiter sehr grundlegend zu befähigen, sich auf die
    307 neue Phase der Globalisierung einzulassen; sie in die Lage
    308 zu versetzen, sich produktiv und ‚in erster Person‘ in die
    309 Umbruchprozesse einzubringen“. [FN: Boes,
    310 Andreas/Baukrowitz, Andrea/Kämpf, Tobias/Marrs, Kira: Eine
    311 global vernetzte Ökonomie braucht die Menschen.
    312 Strategische Herausforderungen für Arbeit und
    313 Qualifikation. 2011, S. 17. Abrufbar unter:
    314 http://www.isf-muenchen.de/pdf/2011-boes-baukrowitz-kaempf-m
    315 arrs-eine-global-vernetzte-oekonomie.pdf ]
    316
    317  Arbeitszeiten: Häufig wird in internationalen
    318 Arbeitszusammenhängen über Zeitzonen hinweg und nicht
    319 selten sogar in rund um die Uhr laufenden
    320 „Follow-the-sun-workflows“ kooperiert. Beschäftigte sehen
    321 sich unter diesen Voraussetzungen häufig mit der
    322 Notwendigkeit ungewöhnlicher Arbeits- und Präsenzzeiten –
    323 spät in der Nacht, früh am Morgen – und mit zeitlich
    324 zunehmend ausgedehnten Verfügbarkeitserwartungen
    325 konfrontiert. Die daraus resultierenden Beanspruchungen
    326 können auf längere Sicht zu einer Gefährdung der Gesundheit
    327 und einer Beeinträchtigung der Work-Life-Balance der
    328 Betroffenen führen. [FN: Vgl. hierzu ausführlich im
    329 Abschnitt 3.3.4 Gesundes Arbeiten.]
    330
    331  Arbeitsrechtliche Situation: Viele Gestaltungsvarianten
    332 international vernetzter Wertschöpfung zeichnen sich auf
    333 der rechtlichen Ebene dadurch aus, dass die in Deutschland
    334 Beschäftigten sowie ihre Betriebsräte mit
    335 Arbeitssituationen konfrontiert werden, die durch
    336 betriebswirtschaftlich optimale Konzepte der
    337 Arbeitserbringung geprägt sind, nicht jedoch durch das
    338 national geltende Arbeitsrecht. Dies führt beispielsweise
    339 dazu, dass Beschäftigte ihre Arbeitsaufträge von Personen
    340 oder Stellen erhalten, die organisatorisch außerhalb ihres
    341 Betriebs oder Unternehmens angesiedelt sind und geografisch
    342 außerhalb der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise
    343 der Europäischen Union. In einer steigenden Zahl von Fällen
    344 lässt sich in solchen Strukturen keine klare
    345 zivilrechtliche Beziehung zwischen Arbeitnehmern und ihren
    346 funktionalen Vorgesetzten mehr erkennen. Dies verweist auf
    347 das generelle Problem, dass das arbeitsrechtliche Modell
    348 durch das Territorialitätsprinzip auf das Hoheitsgebiet der
    349 Bundesrepublik Deutschland begrenzt ist.
    350 Grenzüberschreitend kommen einzelne nationale
    351 Gesetzesvorschriften nur ausnahmsweise zur Anwendung,
    352 beispielsweise dann, wenn auf der Basis von
    353 Arbeitsverträgen nach deutschem Recht beschäftigte Personen
    354 im Ausland tätig werden. Die begrenzte Reichweite des
    355 deutschen Arbeitsrechts wird schon im europäischen
    356 Rechtsraum nicht durch adäquate EU-Regelungen substituiert.
    357 Im weltweiten Rahmen gibt es flächendeckend keine
    358 arbeitsrechtlichen Vorgaben, die den deutschen
    359 Rechtsstandard adäquat abbilden.
    360
    361 Die Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung, wie
    362 sie auf der Basis globaler digitaler Vernetzung in neuer
    363 Qualität möglich geworden ist, kann per Saldo zu
    364 bedeutsamen Wohlfahrtsgewinnen – sowohl in den entwickelten
    365 Industrieländern als auch in Schwellen- und
    366 Entwicklungsländern – führen. Zugleich resultieren aus
    367 dieser Entwicklung Herausforderungen auf Handlungsfeldern
    368 wie dem Arbeitsrecht, den internationalen Arbeits- und
    369 Sozialstandards, der Qualifizierung oder auch der
    370 Arbeitsgestaltung, die es politisch anzugehen gilt, um
    371 Ängste und Verunsicherungen von Beschäftigten glaubwürdig
    372 eindämmen und die fortschreitende Globalisierung nachhaltig
    373 auf einen möglichst breiten Konsens stützen zu können.
    374
    375